Wien (dpa) - Der Jubel vor dem Kanzleramt in Wien war nicht zu überhören. Tausende warteten direkt vor der Tür des Amtssitzes von Kanzler Sebastian Kurz auf dessen Entscheidung über eine Fortsetzung oder ein Ende der ÖVP-FPÖ-Koalition in Österreich.
»Genug ist genug«, sagte der 32-Jährige am Samstagabend kurz vor 20 Uhr vor Journalisten aus aller Welt. Nach dem Skandal-Video, in dessen Mittelpunkt der bisherige FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache stand, hat Kurz die Nase voll vom Koalitionspartner. Er will eine Neuwahl zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Rund 18 Monate nach dem Start ist das rechtskonservative Bündnis, von vielen im In- und Ausland stets kritisch verfolgt, damit schon wieder am Ende.
Straches Rücktritt von allen politischen Ämtern konnte daran nichts mehr ändern. Der 49-Jährige hatte damit am Mittag die Konsequenzen aus dem brisanten Video gezogen, das am Freitag publik geworden war. Es zeigt, wie der Chef der rechtspopulistischen FPÖ einer angeblichen russischen Oligarchin 2017 für Wahlkampfhilfe öffentliche Aufträge versprochen hatte, sollte seine Partei an die Regierung kommen.
Strache entschuldigte sich für sein Verhalten. »Ja, es war dumm, es war unverantwortlich und es war ein Fehler«, räumte er ein. Strafrechtlich habe er sich aber nichts zuschulden kommen lassen. »Das war ein gezieltes politisches Attentat, eine Auftragsarbeit.«
Kurz reichte das nicht. Der junge Kanzler wollte selbst in dieser äußerst schwierigen Situation die Aura des Gewinners vermitteln. Gefasst, prägnant, sortiert listete er am Abend erst eine Reihe der Erfolge der Koalition auf: Steuerreform, Schuldenabbau, Kampf gegen illegale Migration.
Zugleich aber gab er zu erkennen, dass ihn die rechte FPÖ immer wieder zutiefst geärgert und irritiert habe. Der Kanzler erinnerte an antisemitische Vorfälle im FPÖ-Umfeld und an die Nähe der Partei zu den rechtsextremen Identitären. »Es gab viele Situationen, in denen es mir schwer gefallen ist, das alles runterzuschlucken«, meinte Kurz, dessen Schweigen zu diversen Vorfällen auch kritisiert worden war.
Dass Kurz erst mehr als 24 Stunden nach dem Bekanntwerden des Videos das Ende der Koalition verkündete, war aus Sicht von Politik-Experten ein Fehler. »Er hat stundenlang ein Bild der Unentschlossenheit vermittelt«, sagte der Politikwissenschaftler Peter Filzmaier. Der Skandal um das peinliche und brisante Video sei eigentlich groß genug für schnelle Entschlüsse, so der Politologe.
Das 2017 heimlich gefilmte Video zeigt Strache und seinen FPÖ-Parteifreund Johann Gudenus, wie sie in eine offenbar sorgfältig vorbereitete Falle gehen. Bei einem fast siebenstündigen Treffen in einer Villa auf Ibiza sprechen sie mit einer angeblichen russischen Oligarchin, der sie für Wahlkampfhilfe unter anderem öffentliche Aufträge in Aussicht stellen. Auch Gudenus trat am Samstag als FPÖ-Fraktionschef im Nationalrat zurück.
»Angesichts dieses Skandals wird einem gleich mehrfach mulmig: Wie kann ein Spitzenpolitiker erstens so dreist und zweitens so dumm sein?«, fragte sich die Kommentatorin im Wiener »Kurier«. Das Timing konnte für ÖVP und FPÖ nicht schlimmer sein. »Offenbar ging es um einen möglichst vernichtenden Schlag gegen das immer stärker werdende rechte Netzwerk in Europa«, analysierte die Chefredakteurin des Wiener »Kurier« weiter.
Die Frage, wer hinter dem Video stecke, blieb auch am Samstag unbeantwortet. Ob sie jemals geklärt wird, ist fraglich. Das Video war dem »Spiegel« und der »Süddeutschen Zeitung« nach eigenen Angaben schon vor Monaten zugespielt worden.
Die »Süddeutsche Zeitung« betonte, dass sie die Originalaufnahmen nicht zur Verfügung stellen werde. Aus Gründen des Quellenschutzes mache man keine Angaben über die Herkunft, hieß es vonseiten der »SZ«. Das Material sei vor einigen Wochen in einem verlassenen Hotel auf USB-Sticks übergeben worden.
Die ÖVP hatte vor dem Skandal allen Grund, auf zusätzliche Sitze im EU-Parlament zu hoffen. Umfragen und interne Berechnungen deuteten auf einen Zugewinn. Das hätte auch den Nimbus von Kurz als Garant für Wahlsiege untermauert. Jetzt muss auch der 32-Jährige zittern. Kurz befinde sich zum ersten Mal in seiner politischen Laufbahn tief in der Krise, meinte die »Welt«.