Berlin (dpa) - Es summt nervös wie in einem Bienenstock in einer der oberen Etagen des Willy-Brandt-Hauses. Im Hans-Jochen-Vogel-Saal arbeiten die Helfer in zwei Schichten. Sie zählen aus, wer künftig die SPD führen soll: Klara Geywitz und Olaf Scholz oder Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.
Vor sich haben die Freiwilligen aus den Landesverbänden jeweils eine gelbe und mehrere rote Kunststoffboxen. Die einen sortieren, die anderen zählen die Stimmen. Es gilt das Sechs-Augen-Prinzip - jeder Stimmzettel wandert durch mindestens drei Hände. Nichts soll schief gehen. Die Stimmen, die online abgegeben wurden, werden erst kurz vor der Ergebnisverkündung ausgezählt - das geht schnell, sozusagen mit einem Klick.
Am frühen Samstagabend dann der Moment, auf den die Genossen seit einem halben Jahr warten: In der Parteizentrale soll das Ergebnis des Mitgliedervotums bekanntgegeben werden. Es sind entscheidende Minuten für die Zukunft der SPD - aber auch für das schwarz-rote Regierungsbündnis und vielleicht sogar die Handlungsfähigkeit Deutschlands in der EU.
Gesicherte Prognosen über den Ausgang der Stichwahl gibt es nicht, viele erwarten eine äußerst knappe Entscheidung. Wohl auch deshalb war der Ton bei den Sozialdemokraten in den vergangenen Tagen vor allem in den sozialen Netzwerken rauer geworden.
Es treffen Welten aufeinander: Hier der machtbewusste Vizekanzler und Finanzminister und seine ebenfalls pragmatische Team-Partnerin - da die Kritiker des bisherigen SPD-Kurses, die Verfechter einer Politik der Ideale und der gesellschaftlichen Umverteilung. Ein Duo, das die große Koalition mit der Union fortsetzen will, gegen ein Team, das mit dem Austritt liebäugelt. Weitermachen gegen Revolution.
Setzen sich Scholz und Geywitz durch, dürften die kommenden Monate weitgehend unspektakulär werden. Sie würden dem Parteitag am kommenden Wochenende wohl vorschlagen, die GroKo fortzusetzen - dass sich die Delegierten gegen das Votum ihrer frisch gewählten Vorsitzenden stemmen, gilt als unwahrscheinlich.
Offen ist, ob die beiden Pragmatiker es schaffen, ihre aufgebrachte Partei zu versöhnen. Dem Vizekanzler Scholz haften die Wahlniederlagen der vergangenen Monate an, dennoch sieht er sich als künftigen Kanzlerkandidaten. Er verfolgt - ähnlich wie die im Sommer zurückgetretene Parteichefin Andrea Nahles - die Doppelstrategie: In der Koalition möglichst viele sozialdemokratische Projekte auf den Weg bringen - und die Partei programmatisch nach links rücken.
Aufregender würden die nächsten Wochen, wenn Walter-Borjans und Esken sich durchsetzen. Sie wollen die große Koalition zwar nicht fluchtartig verlassen. Doch sie haben klar gemacht: Das Regierungsbündnis kann nur dann weitergeführt werden, wenn CDU und CSU den Koalitionsvertrag neu verhandeln - dazu gehören aus ihrer Sicht weitere Milliardeninvestitionen in Klima, Straßen, Schulen und ein Mindestlohn von 12 Euro.
»Nowabo« und Esken könnten dem Parteitag einen Forderungskatalog vorschlagen, den die SPD in Gespräche mit der Union einbringt. Ziehen CDU und CSU nicht mit - und das hat CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer bereits angedeutet - müssten die Sozialdemokraten reagieren. Sie werde der Partei dann »einen geordneten Rückzug« vorschlagen, hat Esken bereits angekündigt.
Wie es nach einem möglichen GroKo-Aus weitergeht, ist offen. Zumindest der Bundeshaushalt für das kommende Jahr ist beschlossen, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) könnte also eine Zeit lang mit einer Minderheitsregierung weitermachen. Im zweiten Halbjahr 2020 übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft der EU - Neuwahlen kurz davor wird man verhindern wollen.
Einige Sozialdemokraten fürchten, ohne Regierungsbeteiligung werde die SPD noch weiter abstürzen als bisher. Vor allem das Partei-Establishment hat sich deshalb zuletzt ziemlich geschlossen hinter Scholz und Geywitz gestellt.
Die Vorentscheidung fällt am Nikolaustag, wenn die neue Doppelspitze der SPD auf dem Parteitag endgültig gewählt wird. Arbeitsminister Hubertus Heil machte am Freitag in einer Bundestagsrede schon einmal klar: »Wir haben gemeinsam viel vor, das nicht nur an Nikolaus, sondern auch darüber hinaus.«