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Kein heilsames Schweigen über Auschwitz

Jedes Jahr erinnert der Bundestag um den Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz herum an die Opfer des Nationalsozialismus. Diesmal reden erstmals beide Staatsoberhäupter Deutschlands und Israels. Nicht nur deswegen fällt die Gedenkstunde anders aus als üblich.

Reichstagsgebäude
Auf halbmast: Die Fahnen von Europa, Israel und Deutschland vor dem Reichstagsgebäude. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Auf halbmast: Die Fahnen von Europa, Israel und Deutschland vor dem Reichstagsgebäude. Foto: Kay Nietfeld/dpa

Berlin (dpa) - Es ist eine historische Stunde, noch bevor das erste Wort gesprochen ist. Dass die Staatsoberhäupter Deutschlands und Israels gemeinsam an der Gedenkstunde des Bundestags für die Millionen Opfer des Nationalsozialismus teilnehmen und reden, das hat es noch nicht gegeben.

Um Punkt 11 Uhr betreten Frank-Walter Steinmeier und Reuven Rivlin den Plenarsaal. Die Abgeordneten empfangen sie stehend und schweigend. Der erste Beifall brandet erst auf, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Rede den israelischen Präsidenten begrüßt.

»Es gibt kein heilsames Schweigen über Auschwitz«, sagt Schäuble zur Eröffnung und zitiert den Publizisten Elie Wiesel, der vor 20 Jahren zu den Abgeordneten gesprochen hatte. »Wir müssen über Auschwitz sprechen. Über das, wofür es eigentlich keine Worte gibt.«

Doch Schäuble will nicht nur über das von Nazi-Deutschland über seine Nachbarn gebrachte Leid reden. Er weiß, dass dies zu kurz greift. »Wir müssen über Auschwitz sprechen - und über die Verantwortung, die wir als Konsequenz und Lehre aus dem Geschehenen tragen, jede Generation neu. Sie ist eng verknüpft mit der Verpflichtung, die Würde des Menschen und seine unveräußerlichen Rechte zu achten, sie zu schützen und zu verteidigen. Keinen Raum mehr dafür zu lassen, andere Menschen zu stigmatisieren, auszugrenzen, zu verfolgen.«

Die Abgeordnetenbänke sind voll besetzt an diesem Vormittag. Vor der ersten Reihe sitzen auf Stühlen die beiden Staatspräsidenten, daneben Steinmeiers Frau Elke Büdenbender, Kanzlerin Angela Merkel und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Auf den Plätzen der Stenografen liegen drei Blumengebinde aus weißen Rosen.

Der Bundestagspräsident gibt den Tenor der Gedenkstunde vor. Auch Bundespräsident Steinmeier spricht anschließend über das, wofür es eigentlich keine Worte gibt. Über die Schrecken von Auschwitz, wie sie der sowjetische Soldat Alexander Woronzow bei der Befreiung der Überlebenden von Auschwitz mit seiner Kamera festgehalten hat.

Er kam am Nachmittag des 27. Januar 1945 mit seinen Kameraden am deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager an, filmte Kinder, die ihm ihre Arme mit den eintätowierten Häftlingsnummern entgegenstreckten. »Schicksalslose, mit Materialnummern versehen, Brandzeichen einer versuchten Entmenschlichung«, wie Steinmeier sagt. »Es sind Bilder grenzenlosen Grauens, es sind Bilder eines deutschen Verbrechens.«

Einmal mehr bekennt sich Steinmeier zur deutschen Verantwortung für dieses Verbrechen, fordert, die Erinnerung daran zu bewahren. »Vor wenigen Jahren hätte meine Rede an diesem Punkt enden können«, fährt er fort. »Wir waren uns einig über die Lehren der Vergangenheit und eine Erinnerungskultur, die es gemeinsam zu pflegen gilt in diesem Land. Doch ich fürchte, unsere Selbstgewissheit war trügerisch.«

Heute zeigten sich die überwunden geglaubten bösen Geister von früher in neuem Gewand. »Sie präsentierten ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision, als die bessere Antwort auf die offenen Fragen unserer Zeit. Ich fürchte, darauf waren wir nicht vorbereitet - aber genau daran prüft uns unsere Zeit.« In einem Satz fasst Steinmeier die Lehre daraus zusammen: »Erheben wir uns gegen den alten Ungeist in der neuen Zeit!«

Rivlin greift anschließend Steinmeiers Gedanken auf. Er warnt vor einem »chronischen Antisemitismus« in der Welt und mahnt eine führende Rolle Deutschlands im Kampf dagegen an. »Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen nicht nachlassen. Deutschland darf hier nicht versagen.«

Und Rivlin wird hochpolitisch. Er kommt auf die unterschiedlichen Positionen Deutschlands und Israels zum Iran zu sprechen. Dessen Bedrohung sei für Israel nicht theoretisch. »Für uns ist das eine existenzielle Frage.« Auch auf den Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump geht Rivlin ein, spricht davon, dass er »hoffnungsvoll gestimmt« sei. Für die Umsetzung komme es darauf an, Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern aufzubauen. »Da können Sie uns sehr helfen«, gibt er Bundestag und Bundesregierung mit auf den Weg.