Berlin (dpa) - Am Tatort hängt am Tag danach noch ein Zettel: »Konferenzraum gesperrt«. Vor der Berliner Schlosspark-Klinik sind Kamerateams und Polizeiautos zu sehen, ein Sicherheitsmann passt auf, dass der Betrieb weitergehen kann.
Am Dienstagabend ist das Krankenhaus zum Ort eines Verbrechens geworden: Ein Mann sticht dem Chefarzt Fritz von Weizsäcker (59) während eines Vortrags mit einem Messer in den Hals. Der Sohn des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker stirbt noch vor Ort.
Der Angreifer hatte es, so berichten die Ermittler, wohl auf die Familie von Weizsäcker abgesehen. Der Mann ist ein 57 Jahre alter Deutscher aus Rheinland-Pfalz. Er soll »eine akute psychische Erkrankung« haben. Noch am Mittwochabend sollte er in eine Klinik kommen, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Die Behörde spricht von einer »wohl wahnbedingten allgemeinen Abneigung des Beschuldigten gegen die Familie des Getöteten«.
Der Angreifer soll die Tat geplant haben. Im Internet stieß der Mann auf den Vortrag, kaufte sich in Rheinland-Pfalz ein Messer und fuhr mit der Bahn nach Berlin, so der Stand der Ermittlungen am Mittwoch. Gegen Ende des Vortrags sei er auf das Podium gegangen und habe den Redner attackiert.
Das Opfer ist ein renommierter Mediziner, aus einer der bekanntesten deutschen Familien. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier drückt der Mutter des Opfers, der einstigen First Lady Marianne von Weizsäcker (87), handschriftlich sein Beileid aus. Auch die Kanzlerin kondoliert.
Der Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker würdigt seinen Cousin Fritz am Morgen danach mit warmen Worten. »Ich fand ihn ganz wunderbar«, sagt von Weizsäcker der Deutschen Presse-Agentur. »Ich habe ihn ungewöhnlich lieb gehabt.« Fritz von Weizsäckers Schwester Beatrice schreibt bei Twitter: »Wir können es weder fassen noch glauben.« Bei Instagram postet sie ein Kreuz.
In der Krankenhaus-Kantine erzählt eine Angestellte am Tag danach, dass der Chefarzt ein sehr netter Mensch gewesen sei. Die Klinik legt ein Kondolenz-Buch aus. »Alle Mitarbeiter haben die Möglichkeit, in einem geschützten Raum ihre Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen«, heißt es in einer Stellungnahme. Die Mitarbeiter und auch die Teilnehmer der Veranstaltung bekommen demnach psychologische Unterstützung.
Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) bekundet ihr Beileid, sie sei bestürzt. Sie verurteile Gewalt gegen Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte »aufs Äußerste«. Dass Menschen, die anderen helfen und Leben retten, so etwas passiere, erschüttere sie besonders. »Mein Dank und Respekt gilt den Teilnehmenden der Veranstaltung, die Zivilcourage gezeigt haben.«
Wird es nun eine Sicherheitsdiskussion geben? Von Weizsäckers Kollegin, der Berliner Charité-Professorin Britta Siegmund, geht die Tat nahe. Es sei schon der zweite Kollege, den sie auf diese Weise verliere, sagt Siegmund. Eine Sicherheitsdebatte zu führen, hält sie derzeit aber nicht für sinnvoll. »Wir wissen jetzt zu wenig, was passiert ist.« Erst einmal seien die Gedanken bei der Familie.
Im Sommer 2016 hatte ein 72 Jahre alter Patient an der Charité einen Mediziner erschossen und sich danach selbst getötet. Der 55 Jahre alte Kieferorthopäde hatte den Mann lange behandelt. Damals war das Motiv des Täters wohl Verzweiflung. Die Charité bekräftigte danach, dass Sicherheitskontrollen an Krankenhäusern unrealistisch seien - die Häuser müssten für Patienten, Angehörige, Mitarbeiter und Studenten offen sein.
Der Fall von Weizsäcker weckt Erinnerung an frühere Attacken: Während einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau schießt ein geistig Verwirrter 1990 auf den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er bleibt querschnittsgelähmt. 1990 greift eine geistig verwirrte Frau den damaligen saarländischen Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine (SPD) in Köln mit einem Messer an.
Was sich in Berlin abgespielt hat? Ein Rückblick: In der Schlosspark-Klinik gibt es einen öffentlichen Vortrag zum Thema »Fettleber - (K)ein Grund zur Sorge?«. Über ein Dutzend Menschen finden an diesem kalten, nassen Novembertag den Weg zu dem Krankenhaus am Rande des Parks von Schloss Charlottenburg. Beim »Forum 11/2019« im Tagungsraum Haus H der Abteilung für Psychiatrie spricht Dozent Fritz von Weizsäcker.
Er geht um sein Fachgebiet, »die Fettleber, eine weitgehend unbekannte, aber zunehmende Volkskrankheit«. Gegen Ende kommt es zu der Attacke. Ein Polizist (33), der zufällig unter den Zuschauern sitzt, versucht, den Mann aufzuhalten und überwältigt ihn.
Der Beamte wird schwer verletzt. Er kommt später in ein anderes Krankenhaus, wird operiert und ist nicht in Lebensgefahr. Mehrere der Menschen im Publikum helfen, den Angreifer festzuhalten.
Gegen 19.00 geht bei Feuerwehr und Polizei ein Notruf ein, Rettungssanitäter und ein Notarzt eilen zur Hilfe. Sie können den schwer verletzten Spitzenmediziner nicht mehr retten. Kriminaltechniker und Ermittler einer Mordkommission sichern am Tatort mögliche Spuren. Teile der Klinik werden dafür abgesperrt. Die meisten Fenster bleiben am Abend dunkel.
Das Opfer, der 1960 in Essen geborene Mediziner Fritz von Weizsäcker, stammte aus einer berühmten Familie. Sein Vater Richard von Weizsäcker (1920-2015) war von 1984 bis 1994 Bundespräsident, zuvor 1981 bis 1984 für die CDU Regierender Bürgermeister von Berlin (West).
Bis 1962 wohnte die Familie in Essen und Düsseldorf, zog dann nach Ingelheim und 1967 nach Bonn. Fritz von Weizsäcker war das jüngste der vier Kinder. Sein Bruder Andreas starb 2008, es leben noch die Schwester Beatrice (61) und der älteste Robert Klaus (64).