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Alte Werte für neue Zeiten? Wie die SPD nach links rückt

Zurück in die Zukunft: Willy Brandt und Andrea Nahles sind Vorbilder der neuen SPD-Spitze. Mit Verve entwerfen die Neuen ein linkes Programm - und fahren ein gutes Ergebnis ein. Doch wohin steuern sie nun die SPD?

SPD-Bundesparteitag
Da sind sie gleich beim Thema: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (M.) sprechen mit Gewerkschaftern, die Unterschriften für einen Mindestlohn von 12 Euro gesammelt haben. Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Da sind sie gleich beim Thema: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans (M.) sprechen mit Gewerkschaftern, die Unterschriften für einen Mindestlohn von 12 Euro gesammelt haben. Foto: Wolfgang Kumm/dpa

Berlin (dpa) - Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sparen nicht mit Pathos. »Hört ihr die Signale? Die neue Zeit, sie ruft«, sagt Esken in Anlehnung an die Internationale.

Und etwas später ruft Walter-Borjans den rund 600 Delegierten zu: »Dieser Kampf für ein besseres Morgen, der beginnt heute, der beginnt jetzt, in dieser Minute hier in Berlin.« Beide recken die Hände in die Luft, in den fast zwei Minuten lang anhaltenden Parteitagsapplaus.

Die meisten Delegierten stehen, auch Olaf Scholz - auch wenn der Vizekanzler nur jeden zweiten Beifallsschlag mitmacht. Wohin führt der ersehnte Aufbruch die SPD - aus der Koalition, zu etwas Neuem?

Die Partei stellt sich nach monatelangem Kampf um den Vorsitz und die Richtung recht geschlossen hinter den Linkskurs der beiden Neuen. 89,2 Prozent für Walter-Borjans, 75,9 Prozent für Esken - gut 13 Prozent weniger. So startet das Duo mit ungleich verteiltem Vertrauensvorschuss. Beim Mitgliederentscheid erhielt das GroKo-kritische Duo gemeinsam 53 Prozent, die Kontrahenten Scholz und Klara Geywitz bekamen für ihren regierungstreuen Kurs 45 Prozent.

Nun gibt es viele Umarmungen, Glückwünsche auch vom Vizekanzler, von der scheidenden kommissarischen Parteichefin Malu Dreyer gibt es rote Rosen - und in der Halle erleichterten, fast fünfminütigen Beifall. Doch wo steuert das Duo nun hin?

Vieles bei den beiden Neuen klingt nach »Zurück in die Zukunft«. Esken und Walter-Borjans buchstabieren ihren künftigen linken Kurs durch. »Wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts, und in meinem Fall aus langer gemeinsamer Geschichte auch Johannes Raus, ein Linksschwenk der Partei ist, dann bitte sehr, dann machen wir gemeinsam einen ordentlichen Linksschwenk«, sagt Walter-Borjans.

Die SPD als Partei der Gerechtigkeit und des Sozialen - Martin Schulz schaffte damit in seinem Wahlkampf als Kanzlerkandidat nur ein kurzes Hoch. Nun kommen Esken und Walter-Borjans immer wieder auf die kleinen Leute und auf Umverteilung zu sprechen. Esken erinnert daran, dass sie früher in »verschiedenen ungelernten Jobs« gearbeitet habe. »Zu meiner Zeit als Paketbotin hat man zu Tarif gearbeitet.« Heute aber gebe es überall Wettbewerb und Kampf.

Sie rechnen auch mit der Agenda 2010 des früheren Kanzlers Gerhard Schröder ab. Auffällig viel Lob hat Esken für die gescheiterte Ex-Parteichefin Andrea Nahles übrig, ihrerseits schon keine Schröder-Freundin. Noch unter ihr sei das SPD-Konzept für einen neuen Sozialstaat entstanden. »Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen, um Andrea Nahles für ihre Leidenschaft, für ihre Energie, für ihren Einsatz, einfach eigentlich für alles zu danken, die sie der SPD in den letzten Jahrzehnten gegeben hat.« Hartz IV will Esken nun also überwinden - es sei Zeit für eine Umkehr.

Walter-Borjans stellt die schwarze Null und gleich dazu die Schuldenbremse infrage. »Wer Umverteilung für Teufelszeug hält, der sollte wenigstens anerkennen, dass es Umverteilung in diesem Land schon seit langem gibt, nur nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben«, sagt Walter-Borjans. »Wir haben allen Grund, eine linke Volkspartei zu sein und eine linke Volkspartei bleiben zu wollen.«

Aber was macht diese linke Partei nun in der Regierung? Immer wieder geht es gegen die CDU-Chefin. »Wenn Annegret Kramp-Karrenbauer versucht, die Grundrente in Geiselhaft zu nehmen, für unseren Verbleib in der großen Koalition, dann ist das wirklich respektlos«, wettert Esken. Kramp-Karrenbauer hatte angekündigt, dass das Rentenprojekt erst in ein Gesetz gegossen werden soll, wenn sich die SPD zum Regierungsbündnis bekennt.

So klar tut sie das unter ihrem neuen Duo freilich nicht. Eine »realistische Chance« für eine Fortsetzung gibt die erklärte GroKo-Skeptikerin Esken Schwarz-Rot. Walter-Borjans meint, man könne ja lange darüber streiten, welche notwendigen Reformen man verschieben könne, wenn sie mit den Konservativen nicht durchzusetzen seien. Aber den jungen Menschen, die gegen zu langsamen Klimaschutz protestieren, könne die SPD nicht sagen, die Rettung des Planeten werde wegen der Koalition verschoben. »Für eine Koalition, von der mir alle sagen, dass sie nach den nächsten Wahlen niemand fortführen will, werde ich nicht eine ganze Generation von Menschen von der SPD entfremden.«

Die SPD berauscht sich an reiner Lehre, die Redner streicheln die Seele der Partei, Skepsis gegenüber Esken und Walter-Borjans gibt es zunächst nur hinter vorgehaltener Hand. Ihre Kritiker setzen nun auf »Schadensbegrenzung«, wie ein namhafter Delegierter sagt. Schließlich seien beide extrem rückwärtsgewandt. »Die beiden können die Partei nicht führen«, meint er. »Sie sind wie Jeremy Corbyn ohne Antisemitismus.«

Auf der Bühne beschwört Dreyer in ihrem letzten Auftritt als Interimschefin die Werte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität - sie gehörten zur DNA der SPD. Mit viel Jubel danken die Delegierten der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin. Alte Werte und neuer Umgangston - Generalsekretär Lars Klingbeil verkündet: »Wir müssen einen alten Stil in dieser Partei überwinden, der Ego-Shooter und Einzelkämpfer in den Mittelpunkt stellt.«

Der Grundkonflikt zwischen Regierungskurs und Aufbruch ist damit aber nicht gelöst - und die Parteitagsregie deckt ihn mit einem klassischen Mittel zu. Eigentlich war eine Kampfabstimmung zwischen dem obersten GroKo-Kritiker, Juso-Chef Kevin Kühnert, und Arbeitsminister Hubertus Heil um einen von drei geplanten Posten als Vizechef erwartet worden. Als Kühnert kurz vor zehn am Morgen zum Parteitag kommt, zeigt er sich noch kampfeslustig und siegesgewiss. Doch dann sickert durch: Die Zahl der Stellvertreterposten soll doch nur von sechs auf fünf verkleinert werden - interner Kampf soll gestern gewesen sein.

Abstimmungsergebnis Mitgliederentscheid

Antragsbuch SPD-Parteitag

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Anträge Parteitag