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Aktuell INTERVIEW

Wolfgang Overath: »Es war eine große Zeit«

Wolfgang Overath über die legendären Spiele 1970 in Mexiko, seine sportlichen Aktivitäten und Vereinstreue

Erinnert sich an seine starken Auftritte bei der WM 1970: Wolfgang Overath. FOTO: WITTERS
Erinnert sich an seine starken Auftritte bei der WM 1970: Wolfgang Overath. FOTO: WITTERS
Erinnert sich an seine starken Auftritte bei der WM 1970: Wolfgang Overath. FOTO: WITTERS

SIEGBURG. Vor 50 Jahren begeisterte die Fußball-WM in Mexiko. In vielerlei Hinsicht ein besonderes Turnier, das vor allem durch das »Spiel des Jahrhunderts« im Halbfinale zwischen Deutschland und Italien in Erinnerung geblieben ist, bei dem ARD-Reporter Ernst Huberty das 1:1 des Verteidigers vom AC Mailand legendär kommentierte: »Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen.« Die gesamte WM 1970 lässt mit Wolfgang Overath (76) einer der überragenden Hauptdarsteller der Endrunde Revue passieren. Im exklusiven Interview mit dieser Zeitung erzählt er von den besonderen Bedingungen durch Hitze und Höhe, den Stärken des deutschen Teams und ordnet die Bedeutung der WM 1970 für seine Karriere ein.GEA: Vor dem Rückblick die Aktualität: Wie ist es Ihnen während der Corona-Pandemie ergangen, ohne Fußball?

Wolfgang Overath: Eigentlich gehe ich zweimal pro Woche zum Hallenfußball, dienstags in die Sportschule Hennef, donnerstags beim FC am Geißbockheim. Zusätzlich jogge ich samstags und sonntags. Aber dann war plötzlich Ende mit Fußball. Also jogge ich jetzt zusätzlich dienstags und donnerstags. Damit ich mein Gewicht halte und einigermaßen bei Kondition bleibe. Laufen ist für mich aber Quälerei, kostet Überwindung, gehört momentan jedoch dazu. Fußball ist Lebenselixier.

 

Wo liegt Ihr Kampfgewicht im Vergleich zur aktiven Zeit?

Overath: Damals hatte ich 71, 72 Kilo. Jetzt 70.

 

»1970 war eine WM, bei der die ganz Großen in einer großen Anzahl zusammenkamen«

 

Was von der WM 1970 ist neben der Dramatik gegen England und Italien im Gedächtnis geblieben?

Overath: Mexiko 1970 habe ich als beste WM aller Zeiten in Erinnerung. Gerade von den Figuren war es vielleicht die größte WM. Da liefen noch Pelé und Bobby Charlton auf, die Italiener Roberto Boninsegna, Sandro Mazzola und »Gigi« Riva und wie sie alle hießen. Und bei uns Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Uwe Seeler. Es war wohl das letzte Mal, dass bei einer WM die ganz Großen in einer solchen Anzahl zusammenkamen. Von der Qualität der Spieler war es eine fantastische WM in toller Atmosphäre.

Welchen Stellenwert hat diese WM 1970 für Sie?

Overath: Obwohl wir 1974 Weltmeister wurden, was natürlich der herausragende Erfolg überhaupt für einen Fußballspieler ist: Meine beste WM habe ich jedoch, das ist meine Meinung, in Mexiko gespielt. 1966 war ich als junger Kerl froh, mitspielen zu dürfen. Vor der Neuauflage des Endspiels von 1966 im Viertelfinale habe ich gesagt: Wir sind in vier Jahren reifer geworden, die Engländer älter. Dazu kam für mich das große Glück, als einziger deutscher Spieler 1966, 1970 und 1974, bei denen wir Zweiter, Dritter und Erster wurden, alle WM-Spiele absolviert zu haben.

19 Einsätze bedeuten Platz 12 der Ewigen Rangliste. 15 Siege Rang drei hinter Miroslav Klose (17, Anm. der Red.) und dem Brasilianer Cafu (16).

Overath: Es war eine große Zeit, die ich in der Nationalmannschaft erleben durfte, wie auch im Verein seit dem Start der Bundesliga 1963. In Mexiko war das ganze WM-Turnier ein Highlight. Gegen England 3:2 in der Verlängerung nach 0:2. Dann das Jahrhundertspiel vor über 100 000 Zuschauern im riesigen Azteken-Stadion in Mexiko City. Wir hatten eine wirklich sehr gute Mannschaft: Mit Franz Beckenbauer, dem größten deutschen Fußballspieler aller Zeiten, mit dem mich auch heute noch eine enge Freundschaft verbindet. Und vorne Gerd Müller als WM-Torschützenkönig und Uwe Seeler, den Bundestrainer Helmut Schön zurückgezogen spielen ließ. Als Kapitän auch menschlich herausragend und Torschütze wie zum 2:2 gegen England mit dem Hinterkopf. Alle anderen Mitspieler könnte ich ebenso hervorheben.

Wie haben Sie das Halbfinale gegen Italien noch vor Augen?

Overath: Wir waren so nahe dran am Finale, auf Augenhöhe, im Pech, auch durch die Verletzung von Franz, der mit bandagiertem Arm durchhalten musste, weil wir nicht mehr wechseln durften. Wir bekamen dumme Tore, vor allem das entscheidende 4:3 durch Gianni Rivera.

Nach dem Aus gegen Italien herrschte absolute Leere?

Overath: Natürlich waren wir deprimiert. Aber wir haben die Menschen, die Fußballwelt begeistert. Deshalb reden bis heute so viele von diesem Spiel. Wir haben uns super verkauft, für den deutschen Fußball eine tolle Visitenkarte abgegeben. Auch mit anständigem Verhalten in der Niederlage, wie schon nach dem Finale 1966. Nachrichten, dass Deutschland stolz auf uns war, halfen über die Enttäuschung hinweg. Schnell habe ich wieder nach vorne geschaut: Du bist Zweiter und Dritter geworden, jetzt musst du alles daran setzen, 1974 Erster zu werden. Denn mir war immer bewusst: Großartig gespielt zu haben, aber ohne Titel geblieben zu sein, gerät in Vergessenheit. Einen Weltmeister kennen die Leute ihr Leben lang – so besonders gerade das Spiel gegen Italien auch war.

Bei Unentschieden hätte das Los entschieden, ohne Elfmeterschießen.

Overath: Das Los ist keine Lösung. Davon hatte ich seit dem Europapokal-Viertelfinale 1965 gegen Liverpool genug. Nach dem dritten Spiel mit Verlängerung in Rotterdam steckte die Münze beim ersten Wurf des Schiedsrichters ja auch noch senkrecht im Schlamm.

 

»Helmut Schön war ein super Trainer mit viel taktischem Wissen. Ein anständiger Kerl«

 

Vor der WM gab es im Winter viele Spielausfälle. Wie kam die Mannschaft nur einen Monat nach Bundesliga-Schluss in bis über 2 000 Meter Höhe und bei über 30 Grad zurecht?

Overath: Wir hatten Angst, ob wir diese ungewohnte Situation, diese uns unbekannte Belastung in der dünnen Luft überstehen würden. In diesem Klima sind einige Mannschaften anfangs über ihre Verhältnisse viel gerannt und später total eingebrochen. Aber nachdem ich daran gewöhnt war, haben mir die Spiele nicht mehr so zugesetzt. Und so konnten wir nach dem anstrengenden Halbfinale im Spiel um Platz drei auch noch Uruguays Fußballartisten schlagen.

Wie war Helmut Schön als »Chef«?

Overath: Der »Lange« war ein super Trainer mit viel taktischem Wissen. Ein anständiger Kerl. Dass wir in acht Jahren Erster, Zweiter und Dritter wurden, war in erster Linie sein Verdienst. Oft wurde er falsch dargestellt als angeblich zu weich. Mit älteren Spielern hat er sich ausgetauscht, letzten Endes aber immer selbst entschieden. Und wenn er im Training mitspielte, konnten wir sehen, welch guter Fußballer er war. Der konnte mit der Kugel etwas anfangen (Schön war Nationalspieler und Meisterspieler des Dresdner SC, Anm. der Red.).

Sein Vorgänger Sepp Herberger gab in Mexiko durchaus kritische Kommentare ab, monierte nach dem 2:1-Auftakt gegen Marokko etwa falsche Stollen. Und Ihr verletzter Konkurrent Günter Netzer war Bild-Kolumnist.

»Ich wusste immer, wo ich herkomme, wie schwer es meine Eltern hatten mit acht Kindern«

 

Overath: Günter hat sich mit uns über die Erfolge gefreut. Trotz aller Rivalität waren wir Freunde. Nach dem Spiel gegen Uruguay kam er auf das Zimmer, das ich mit Franz Beckenbauer teilte. Insgesamt habe ich mich immer hundert Prozent nur auf das Turnier konzentriert. Und mich auch nicht aufgeregt, wenn es hieß: Die werden kaserniert, ihre Frauen dürfen nicht dahin. Wir wohnten in einem schönen Hotel in Comanjilla. Daran, dass es dort mal Theater gab, kann ich mich nicht erinnern. Selbst als jemand statt der üblichen Adidas-Schuhe Puma ins Spiel bringen wollte, war das nur ein Thema am Rande.

Zum besten Mittelfeldspieler der WM gewählt, waren Sie bei Top-Clubs gefragt.

Overath: Es gab viele Angebote. Aber ich hatte einen Vertrag in Köln. Und der FC war immer meine Heimat. Daher war es kein Thema, die guten Leistungen anderswo für einen großen Vertrag zu nutzen.

1969 wären Sie fast beim FC Bayern gelandet: Wenn Köln das Bundesliga-»Endspiel« gegen Nürnberg nicht gewonnen hätte und abgestiegen wäre.

Overath: Möglicherweise wäre ich dann auch ein Stück weit in Europa unterwegs gewesen. Aber meine Frau war sehr heimatverbunden, unsere Kinder waren noch klein. Als ich beim FC aufgehört habe, schien ein Wechsel eher denkbar. Die Chicago Stings haben für drei Jahre so viel Geld geboten, wie ich in Köln in 14 Jahren zusammen verdient hatte. Wenn ich es aus finanziellen Sorgen gemusst hätte, wäre meine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen. Aber ohne Familie wollte ich nicht in die USA gehen. Für meine Ehe wäre das nicht gesund gewesen.

Vernunft besiegte Verlockung?

Overath: Nicht nur Vernunft, auch meine Mentalität als Rheinländer. In ein anderes Land zu wechseln, war nicht meine Welt. Für mein wunderbares Leben, durch Familie, Sport, Beruf und Gesundheit, bin ich sehr dankbar. Ich wusste immer, wo ich herkomme, wie schwer es meine Eltern hatten mit acht Kindern und mir als Jüngstem. Und ich weiß, wie gut es mir heute geht. (GEA)

 

ZUR PERSON

Wolfgang Overath, geboren am 29. September 1943 in Siegburg, absolvierte für den 1. FC Köln 409 Bundesligaspiele (83 Tore). 1964 feierte er mit dem FC die deutsche Meisterschaft. Mit der Nationalmannschaft wurde er 1974 Weltmeister, 1966 Zweiter und 1970 Dritter bei der WM. Overath bestritt 81 Länderspiele (17 Tore). Von 2004 bis 2011 war er Präsident des 1. FC Köln. Overath ist seit 54 Jahren mit Ehefrau Karin verheiratet, sie haben zwei Söhne und eine Adoptivtochter aus Brasilien. Zu Overaths umfangreichem sozialen Engagement gehört seit vielen Jahren ein Fonds für Hilfsbedürftige, der seinen Namen trägt. Auch mit 76 Jahren arbeitet er täglich in seinem Immobilien-Unternehmen. (GEA)