KÖLN. Ost und West zusammenzubringen, das wäre in Deutschland wirklich ein politisches Verdienst. 34 Jahre nach der deutschen Vereinigung ist das noch nicht wirklich gelungen. Dabei hat das ein simples Fußballspiel bereits bei einer Weltmeisterschaft in Deutschland geschafft. Als Ost und West noch zwei souveräne Staaten waren.
Ein faszinierendes Buch ist das geworden. Einmal mehr, wenn Ronald Reng ein neues Projekt angeht. »1974 – Eine deutsche Begegnung« behandelt die legendäre 0:1-Niederlage von Deutschland-West gegen Deutschland-Ost, entschieden von Jürgen Sparwasser in der 78. Minute im Volkspark zu Hamburg am 22. Juni 1974. Aber es geht in dem Buch nicht vorrangig um dieses Spiel, darüber ist in fünf Jahrzehnten wahrlich genug geschrieben worden. Sondern um Menschen, die an diesem Tag nicht im Stadion oder vor dem Fernseher sind, als vor einem halben Jahrhundert das erste und einzige Mal die Nationalmannschaften der DDR und der Bundesrepublik aufeinandertreffen.
Die Idee von Ronald Reng: »Kann man an einem einzigen Fußballspiel, an einem einzigen Tag, versuchen, eine ganze Zeit einzufangen? Zu beschreiben, was in den beiden deutschen Staaten damals wichtig war? Ich habe Menschen gesucht, die in irgendeiner Art eine Verbindung zu dem Spiel hatten. Sei es ein RAF-Terrorist, der beschuldigt wurde, ein Attentat auf dieses Spiel zu planen. Seien es Schauspieler am Deutschen Theater in Ostberlin, die an dem Abend «Die neuen Leiden des jungen W.» spielen mussten.«
Unter dem Radar der SED
Die Schauspielerin Jutta Wachowiak erzählt Reng, dass die fußballbegeisterten Theaterschauspieler in Berlin Ost sauer waren, dass sie das Spiel DDR gegen BRD an jenem Samstag nicht am Fernseher verfolgen konnten. Reng dokumentiert zugleich, wie der Roman »Die neuen Leiden des jungen W.« 1973 beim Rostocker Hinstorff-Verlag erscheinen konnte. Bis zum heutigen Tag ist es ein Faszinosum, wie ein systemkritisches Buch wie das von Ulrich Plenzdorf unter dem Radar der SED blieb.
Faszinierend auch die Geschichte eines Fans, der für Günter Netzer schwärmte. Zwar hieß der Bundeskanzler bei der Weltmeisterschaft 1974 schon nicht mehr Willy Brandt, doch der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito war eingeladen. Als Tito in den Tagen der Weltmeisterschaft Brandt auf dem Venusberg besuchte, brachte er dem zwölf Jahre alten begeisterten Fußballfan Matthias, jüngster Sohn des Ex-Kanzlers, ein Fußballtrikot des jugoslawischen Serienmeisters Partizan Belgrad mit. Wir erfahren: das Trikot kratzte – und wurde von Matthias nur einmal im Training in Godesberg getragen.
Das Buch von Reng überzeugt einmal mehr durch die Summe seiner intensiven Recherchen. Und deshalb ist das Buch auch 50 Jahre nach dem vorletzten Spiel der Vorrunde damals immer noch ein Buch voller Neuigkeiten. Die Schauspieler Matthias Brandt und Jutta Wachowiak sind zwei prägende Elemente, aber auch Roland Jahn, der letzte Leiter der Behörde für Stasiunterlagen, oder das ehemalige RAF-Mitglied Klaus Jünschke, waren Gesprächspartner von Reng. Wie auch zahlreiche Nationalspieler der DDR und der BRD.
Es entsteht ein Kaleidoskop an Meinungen und Eindrücken zur damaligen Zeitgeschichte anhand eines Fußballspiels. Da ist die große Frage, warum Günter Netzer als einer der prägenden Gestalten des Fußballs Mitte der 70er Jahre, gegen seinen Freund und Konkurrenten Wolfgang Overath keine Chance hatte, fast nebensächlich. Netzer spielte nur wenige Minuten bei diesem Turnier, ausgerechnet in dem Spiel gegen die DDR, konnte in der Kürze der Zeit aber nichts mehr ausrichten und spielte fortan in den Planungen des Bundestrainers Helmut Schön keine Rolle mehr. Bis zum Finale in München, als Deutschland-West mit 2:1 gegen die Niederlande gewann und zum dritten Mal Weltmeister wurde.
Wunderbare Schlussszene
Selten sind auch die Rollen der damaligen DDR-Nationalspieler nachdrücklicher beschrieben worden. Und trotzdem bleiben das in dem Buch von Reng nur Aspekte neben all den Personen, die eine Verbindung zu dem Spiel hatten – am Rande dieser historischen Begegnung. Reng gelingt ein journalistisches Buch mit großer Tiefe – und einer wunderbaren Schlussszene. In der Matthias Brandt, inzwischen eine der prägenden Schauspieler der Republik, das Schreibwarengeschäft Nitzinger in der Münchener Ohlmüllerstraße besucht, geführt von Georg »Katsche« Schwarzenbeck, dem damaligen Vorstopper der bundesdeutschen Weltmeister. »Matthias Brandt kaufte eine Zeitung, betrachtete beim Bezahlen ganz kurz Schwarzenbecks Gesicht und ging, ohne ein weiteres Wort, glücklich aus dem Laden.« Großartig, oder? (GEA)