LONDON. Elfmeter-Glückspilz Harry Kane grinste schelmisch, Trainer Gareth Southgate ließ sich von den euphorisierten Fans feiern und auf der Tribüne applaudierte Prinz William gerührt.
An einem magischen Wembley-Abend haben die Three Lions erstmals das Finale einer Europameisterschaft erreicht und Dänemarks wundersame Sommerreise beendet. »Unglaublich, was für ein Spiel. Echt hart. Wir waren da, als es zählte. Ein Finale zuhause - was für ein Gefühl«, sagte Matchwinner Harry Kane.
Zweiter Titel nach 1966 greifbar nahe
In einem spannungsgeladenen Halbfinale vor 64.950 Zuschauern setzten sich die Engländer am Mittwochabend dank Topstürmer Kane mit 2:1 (1:1, 1:1) nach Verlängerung durch und greifen am Sonntag ebenfalls in London im Final-Kracher gegen Italien nach ihrem erst zweiten Titel nach dem WM-Triumph 1966. Southgate konnte sein persönliches Halbfinal-Trauma mit dem 1996 gegen Deutschland verschossenen Elfmeter nach 25 Jahren besiegen.
»Was das für dieses Land bedeutet, hat man heute gesehen. Die Energie, die Atmosphäre, das war top. Jetzt feiern wir ein bisschen, ab morgen liegt dann der Fokus auf Italien«, sagte Stürmer Raheem Sterling. »Wir haben einen guten Team-Spirit gezeigt und das Spiel gedreht. Wir wussten, dass es schwierig wird, aber wir mussten geduldig bleiben«, betonte der Man-City-Stürmer.
In der Verlängerung war Kane (104. Minute) per Elfmeter-Nachschuss zur Stelle, nachdem Dänen-Schlussmann Kasper Schmeichel seinen umstrittenen Strafstoß zunächst pariert hatte. Sterling war sich sicher: »Es war auf jeden Fall ein Elfmeter.«
Eigentor sorgt für Wende
In der regulären Spielzeit waren die Three Lions durch ein Eigentor des dänischen Kapitäns Simon Kjaer (39.) wieder ins Spiel gekommen. Die Führung der Dänen durch einen Freistoßtreffer von Youngster Mikkel Damsgaard (30.) hielt nur neun Minuten an. 25 Tage nach dem dramatischen Zusammenbruch von Starspieler Christian Eriksen konnte sich Danish Dynamite aber mit großem Stolz vom Pan-Europa-Turnier verabschieden. »Es war eine großartige Reise. Es tut mir leid, dass sie vorbei ist«, sagte Kjaer.
Es war der ganz besondere Fußball-Swing, der durch London, der durch ganz England schwirrte. Die in mehr als einem halben Jahrhundert aufgestaute Sehnsucht nach diesem immer wieder unerreichbaren Titel war überall spürbar, nirgends aber mehr als auf den Rängen des Wembley-Stadions. »It's coming home«, »Sweet Caroline« und natürlich »God save the Queen« wurden inbrünstig als Klassiker des EM-Sommers intoniert. Und die Corona-Sorgen? Vor der größten Kulisse seit Pandemie-Ausbruch kollektiv bei Seite geschoben.
England zeigt gegen zunächst tiefstehende Dänen gleich sein neues Selbstbewusstsein. Kane schlug einen guten Diagonalball auf Raheem Sterling (6.), der jedoch im Strafraum einen Schritt zu spät kam. Kurz darauf brachte der Stürmer von Manchester City (13.) nicht genug Druck auf den Ball.
Dänemark setzte auf Konter und traute sich langsam mehr zu. Damsgaard holte sich einen zu schnellen Abwurf von England-Torwart Jordan Pickford (15.) - mehr als einen Eckball hatte der Lapsus aber nicht zur Folge. Damsgaard (25.) näherte sich mit einem Schlenzer an.
Pickford mit englischen Rekord
Wenig später hatte Pickford den englischen Rekord von 720 Minuten ohne Gegentor von Gordon Banks aus dem Jahr des WM-Triumphs 1966 gebrochen. Doch dann zielte Damsgaard mit einem herrlichen Freistoß ganz genau. Pickfords Marke blieb nach dem ersten Turniergegentor bei 725 Minuten stehen. Kane erkannte die prekäre Lage der Three Lions. Jetzt wach bleiben und frei im Kopf - so war die Geste des Starstürmers zu verstehen. Die Kulisse in Wembley durfte auf keinen Fall zur Hypothek werden.
Und England kam wie von Kapitän Kane und Trainer Southgate an der Seitenlinie gefordert schnell und offensiv zurück. Sterling scheiterte zunächst noch völlig freistehend am überragend reagierenden Schmeichel. Beim nächsten Angriff zwang Sterling Kjaer nach einer Hereingabe von Bukayo Sako, der für den Noch-Dortmunder Jadon Sancho in die Startelf zurückgekehrt war, zu einem Eigentor. Eine Serie war nun gebrochen. Die bisher sieben Spiele beider Teams in Wembley hatte immer ein Team 1:0 gewonnen.
Pickford musste gleich nach dem Seitenwechsel wieder ran. Einen Schuss von Kasper Dolberg (51.) fischte er aus dem unteren Eck. Der in Leicester mit ganz viel England-Erfahrung ausgestattete Schmeichel tat es ihm bei einem gefährlichen Kopfball von Harry Maguire (55.) nicht minder spektakulär nach. Jetzt wurde mit offenem Visier gespielt. Und England erhöhte den Druck. Die so oft passive Spielweise bei dieser EM wurde abgelegt. Deutlich höher pressten Kane und Chelseas Champions-League-Sieger Mason Mount gegen die nur noch um Ordnung bemühten Dänen.
Die Uhr tickte herunter. Die Spannung stieg spürbar und es kam Hektik auf. Vehement wie erfolglos forderte England einen Elfmeter, als Kane (75.) im Strafraum nach einem Kontakt mit dem Bein von Christian Nörgaard zu Boden ging. Jetzt waren gute Nerven gefragt. Die letzte Möglichkeit in der regulären Spielzeit vergab Kane in der siebten Minute der Nachspielzeit. Nach drei Minuten der Verlängerung zwang der Spurs-Stürmer Schmeichel zur nächsten Glanztat. Es begann ein englisches Powerplay und dann fiel Sterling unter Bedrängnis von Joakim Maehle und Mathias Jensen. Diesmal gab es Strafstoß und Kane traf im Nachschuss zum englischen Glück. (dpa)