LEIPZIG. Was bleibt, ist die Erinnerung. »Natürlich rückt mir immer als erstes der Moment in den Kopf, als Michael mir damals den Siegeskranz beim Kartrennen übergeben hat«, sagt Sebastian Vettel.
Damals war er noch ein Bub, der Michael ein Star. Schon lange ist er nun sein Kumpel, noch länger sein Vorbild. Michael, das ist Michael Schumacher. Der siebenmalige Weltmeister, der 91-malige Grand-Prix-Gewinner, der Rekordmann der Formel 1. Michael Schumacher Superstar. Ein Superstar ohne Bühne. Seinen 50. Geburtstag wird Schumacher am 3. Januar abgeschirmt von der Öffentlichkeit erleben.
Es war der Skiunfall am 29. Dezember 2013 in den französischen Alpen, der Schumachers Dasein von einer Sekunde auf die andere mehr veränderte als seine unzähligen Erfolge, Titel und Auszeichnungen, als seine Crashs auf vier und zwei Rädern, als alle sportlichen Triumphe und Tragödien auf der Rennstrecke.
»Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich war selbst beim Skilaufen in Kitzbühel«, sagt Norbert Haug in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Weil schlechtes Wetter herrschte, schaute sich der langjährige Mercedes-Motorsportchef ein Skirennen im TV an und wurde per Laufband von den Nachrichten über Schumachers Sturz informiert. Wie vermutlich die meisten, die Schumacher kannten und um seine Skifahrer-Qualitäten wussten, dachte auch Haug im ersten Moment, dass die Berichterstatter ein bisschen übertreiben würden.
Die Schwere der Verletzungen und ihre Folgen, all das wurde am Morgen danach aber schmerzhaft klar. Das Leben des Michael Schumacher, der in seiner Karriere aberwitzig viele Kilometer in über 700 PS starken Rennwagen fuhr und bis auf einen Schienbeinbruch zumindest auf vier Rädern keine schwereren Verletzung davongetragen hatte, war nicht mehr dasselbe.
Als Rennfahrer wurde Michael Schumacher zu einem Phänomen. Ein Außergewöhnlicher in seinem Metier. Ein Grenzenverschieber, ein Bessermacher. »Michael Schumacher konnte Dir Löcher in den Bauch fragen. Er wollte einfach wissen, worüber er spricht«, erklärt Haug.
Was er machte, wollte Schumacher richtig machen. Perfekt. »Eine Eigenschaft, die ich wirklich faszinierend fand, war die Energie, die er in diesen Beruf stecken konnte, ins Rennfahren. Das war Wahnsinn, grenzenlos und echt unglaublich«, erzählt Nico Rosberg, der für drei Jahre Schumachers Teamkollege bei Mercedes war, als der gebürtige Kerpener nach ebenfalls drei Jahren Rennpause ab 2010 ein Comeback feierte.
Schumacher wurde früh zum Sinnbild eines bis in die letzten Muskeln durchtrainierten Fahrerathleten, unter T-Shirts und Hemden zeichneten sich die Muskeln ab. Schumacher trieb auch den Kampf um mehr Sicherheit voran. Nicht ohne Grund. Er erlebte einige der dunkelsten Stunden der Formel 1 hautnah mit.
Er war am 1. Mai 1994 dabei, als Ayrton Senna, eine Ikone der Motorsport-Königsklasse, tödlich in Imola verunglückte. Es war das schwarze Wochenende der Formel 1. Einen Tag vor Senna hatte der Österreicher Roland Ratzenberger einen Unfall nicht überlebt.
Schumacher gewinnt das Rennen, er gewinnt in diesem Jahr auch zum ersten Mal die Weltmeisterschaft. Als er sechs Jahre später die Siegmarke von Senna erreicht, bricht Schumacher nach dem Großen Preis von Italien in Tränen aus. Selten zeigt sich der gebürtige Rheinländer bis dahin öffentlich derart berührt.
Aber was macht eigentlich einen Weltklasse-Rennfahrer aus? Wird man als Weltklasse-Rennfahrer geboren? »Man stellt sich das Rennfahren manchmal auch ein bisschen falsch von außen vor, so, als wäre es vom Wahnsinn getrieben. Genau das ist es nicht«, sagt Haug: »Es ist hochgradige Beherrschung bei höchster Geschwindigkeit.«
Und das Wissen, dass jeder Fehler verheerende Folgen haben kann. Schumacher beherrschte die Gratwanderung. In jeder Hinsicht. Er reizte die Grenzen aus, auch die des Regelwerks, auch die des Verhaltens auf der Strecke. Sein schwerster Formel-1-Unfall ereignete sich 1999 in Silverstone, Schumacher erlitt einen Schienbeinbruch. Ein Jahr später begann seine Titelära mit Ferrari mit fünf WM-Triumphen in Serie.
»Er hat einen Maßstab an Dominanz gesetzt, auch wenn es manchmal kontrovers zuging«, sagt Damon Hill. Der 58 Jahre alte Brite weiß, wovon er redet. In der Liste der Rivalen, die mit Schumacher um die WM kämpften, taucht auch Hill auf. 1994 fuhren sich die beiden WM-Gegner ins Auto, 1995 musste sich Hill erneut seinem Rivalen im Benetton geschlagen geben. 1996 besiegte der Engländer dann den Deutschen.
»Ich habe nur einmal die WM gewonnen, ich hätte sie so gern zweimal gewonnen«, gibt Hill zu. Er arbeitet seit Jahren fürs britische Fernsehen als TV-Experte. Es ist das Saisonfinale 2018 in Abu Dhabi. Schumacher fuhr dort 2012 sein drittletztes Rennen. Er ist und bleibt aber allgegenwärtig. Hill fügt mit einem immer noch leicht ungläubigen Kopfschütteln und einem Lächeln hinzu: »Sieben Titel zu gewinnen ist wahnsinnig.«
Schumacher erarbeitete sich seine Erfolge. Kfz-Mechaniker, keine wohlhabenden Eltern, der Vater arbeitete unter anderem als Platzwart einer Kartbahn, die Mutter betrieb den dortigen Kiosk. Der Aufstieg eines einfachen Jungen aus einfachen Verhältnissen.
»Diesen rohen, natürlichen Hunger kannst Du nicht schlagen«, sagte vor einigen Wochen Lewis Hamilton in einem dpa-Interview. Als Beispiel dafür nannte der 33 Jahre alte Brite die Box-Legende Muhammad Ali. Hamilton selbst, Sohn eines Einwanderers aus der Karibik, erster dunkelhäutiger Pilot der Formel 1, wird auch von diesem Hunger angetrieben. Bei Schumacher, dessen Rekorde der Fünffach-Champion Hamilton nach und nach übertrifft, war es nicht anders.
Mit vier Jahren saß er im Kart – besser: in einem Kettcar mit Mofa-Motorantrieb - auf der Bahn in Kerpen, die dem ehemaligen Piloten Graf Berghe von Trips gewidmet war. »Schumacher war in jungen Jahren oft im Regen unterwegs, um die technischen Defizite des Eigenbaus auszugleichen. Hier wurde das Fundament für die einzigartige Fahrzeugbeherrschung des späteren Weltmeisters gelegt«, schreibt das Magazin »auto, motor und sport« in einer Sonderedition zum 50. Geburtstag von Schumacher.
Später wechselte Schumacher zusammen mit Bruder Ralf und dem Kartclub auf die Bahn in Kerpen-Manheim. Auch sie ist nur noch Erinnerung, sie soll dem Tagebau in der Region Platz machen.
Da sind sie wieder, die Erinnerungen. Wie eine Zeitreise. Mehr ist den Fans in den fünf Jahren seit Schumachers Skiunfall nicht geblieben. Als Ort des Erinnerns dient auch eine Ausstellung in Marburg. »Natürlich fehlt Michael an Tagen wie heute«, sagt seine Managerin Sabine Kehm bei der Eröffnung im Februar 2016.
Es sind Sätze, bei denen der letzte Laut verstummt und Blicke gen Boden gehen. »Leider können wir das, was passiert ist, nicht ändern«, sagt Kehm, eine enge Vertraute der Familie Schumacher. Ihre Stimme stockt. In der ersten Reihe sitzen Michael Schumachers Ehefrau Corinna und die beiden Kinder.
Ortswechsel, fast drei Jahre später. Eine riesige Halle nahe Köln. Zwei Ebenen. Alles im Zeichen nobler, teurer und schneller Autos. Unten stehen zumeist gebrauchte Wagen zum Verkauf, wer sie haben will, muss einiges zahlen. Manchmal röhren die Motoren. Die Lautstärke lässt erahnen, wie viele PS dahinter stecken. Es hallt durch die Motorworld Rheinland.
Wenn es wieder leise wird und die Besucher die Stufen zur oberen Etage erklommen haben, macht sich eine besondere Stille breit. Eine aus Staunen und Bewunderung. Eine Stille der Erinnerung.
»Wenn man hierherkommt, laufen so viele Filme im Kopf ab. Das sind Emotionen pur, man fühlt sich in alte Zeiten zurückversetzt«, sagt Rainer Ferling. Er ist der Vorsitzende des Michael-Schumacher-Fanclubs aus Kerpen, mittlerweile erweitert zum Michael- und Mick-Schumacher-Fanclub.
Ferling ist wie Schumacher ein echter Rheinländer. Ferling ist einer seiner größten Fans. »Es gibt kein Leben ohne Michael Schumacher«, sagt er. Man kennt ihn vor allem als den Mann mit dem Zylinder - einer Eigenbau-Konstruktion zu Ehren von Michael Schumacher.
Dem »Mischaell«, wie Ferling in breitem rheinländischem Dialekt immer sagt. Erst recht, wenn er über den Familienmenschen Schumacher spricht. »Dieser Familienmensch hat etwas verkörpert: Dass man eine intakte Familie haben kann und sie schützt«, betont Ferling.
Seit 1993 verfolgt er die Karriere, verpasste praktisch kein Rennen, feierte morgens um sechs den ersten WM-Titel auf der Kartbahn in Kerpen-Mannheim. Er flog auch schon morgens aus der Türkei nach Köln, um beim Public Viewing in Kerpen dabei zu sein, und abends wieder zurück in den Urlaub zu fliegen.
Ferling erinnert sich an all das nur zu genau, wenn er wieder einmal durch die Ausstellung nahe seiner Heimat schlendert. Auch an den Tag des folgenreichen Skiunfalls. Er gehe sonntags oft zum Frühschoppen, erzählt er. »An diesem Sonntag hat mir eine innere Stimme gesagt: Geh' nach Hause.«
Genau das tat er. Im Tagesverlauf des 29. Dezember 2013 nahm die Dramatik immer mehr zu, nachdem Schumacher im Skigebiet oberhalb von Méribel bei einem Sturz mit dem Helm auf einen Felsen geschlagen war. Ferling verfolgte die bestürzenden Neuigkeiten wie auch Haug und sicher Millionen Fans via Internet und TV.
Dass es seit langem keine Informationen über Michael Schumachers Zustand gibt, kann Ferling sehr gut nachvollziehen. »Man sollte doch einfach Momente wie die des letzten WM-Titels von Michael 2004 oder sein letztes Rennen in Erinnerung behalten«, sagt er.
Nur weil man sich mal eine Kappe von Schumacher gekauft habe, habe man keine Rechte an dessen Privatsphäre erworben. Schumachers früher Wegbegleiter Haug sieht es genauso. »Man sollte sich so verhalten, wie es sich die Familie wünscht«, mahnt er.
Es bleiben ja die Erinnerungen. An sieben WM-Titel, an über 300 Rennen, an legendäre Zweikämpfe, an Ausraster, wie im WM-Finale 1997, als er seinen damaligen Widersacher Jacques Villeneuve in Jerez de la Frontera von der Piste rammte. Schumacher wurden danach alle Punkte aberkannt, der WM-Titel ging an Villeneuve.
Erinnerungen an grandiose Fahrten, auch und immer wieder auf der anspruchsvollen Strecke in Spa-Francorchamps. Aber auch an kontroverse Aktionen wie der in Österreich 2001, als der damalige Ferrari-Teamchef Jean Todt an Schumachers Kollegen Rubens Barrichello funkte: »Lass Michael für die Meisterschaft vorbei.«
Barrichello lässt Schumacher auf der Zielgeraden passieren. Schumacher war halt das unumstrittene Alpha-Tier im Stall, er hatte Ferrari zusammen mit Todt und Technikgenie Ross Brawn wieder an die Spitze der Formel 1 geführt und nach 21 Jahren wieder einen Fahrer-Titel beschert.
Schumacher war auch ein Teambeschleuniger, ein echter Anführer. »Schnelles Rennfahren ist die Aufnahme in den Club der Besten, aber ein Team zu formen, es aufzubauen bei Rückschlägen, das macht den Unterschied zwischen sehr guten und sehr, sehr guten Fahrern aus«, betont Haug.
Etwas, dass laut Bernie Ecclestone auch den Unterschied zwischen Vettel und Schumacher ausmacht. Der 31 Jahre alte Heppenheimer, der im kommenden Jahr in seine fünfte Ferrari-Saison starten wird - im fünften Jahr gewann Schumacher erstmals mit der Scuderia den Titel - sei eben nicht so ein Anführer wie Schumacher, urteilte der 88 Jahre alte ehemalige Formel-1-Boss vor einigen Wochen.
Der Rat seines Idols fehlt Vettel, das sagte der Hesse schon mehrfach. Wie Schumacher schützt er seine Privatsphäre vehement. Nur all zu gern erinnert er sich auch immer noch an die gemeinsamen Auftritte beim Race of Champions, bei dem Fahrer aus verschiedenen Rennserien in Spaßmobilen gegeneinander antreten.
»Da hatten wir beide keine Verpflichtungen, sondern konnten dem nachgehen, was uns beide so sehr verbindet – das Rennfahren. Außerdem hatte man anders als bei den Formel-1-Rennen Zeit, sich auch mal über andere Dinge zu unterhalten«, sagte Vettel der Deutschen Presse-Agentur.
Einmal erzählte Vettel auch über seine Begegnungen mit seinem Idol: »Ich habe sozusagen zwei Michael Schumacher kennengelernt. Den einen, als ich noch ein Kind war. Das war, als würdest du den lieben Gott treffen. Und dann erlebte ich ihn als Erwachsener.«
Vettel bleiben auch nur die Erinnerungen, in Maranello werden sie ab dem 3. Januar wieder besonders intensiv werden. Das Ferrari-Museum bei Modena widmet seinem erfolgreichsten Piloten eine Ausstellung. »Schumacher hat einen besonderen Platz in Ferraris Geschichte«, kündigten die Italiener die »Hommage« an.
Der inzwischen zum Weltverbandschef aufgestiegene Jean Todt dürfte sie sich auch ansehen. »Wir lieben uns, weil wir gemeinsam eine unglaubliche Geschichte geschrieben haben«, sagte Todt jüngst bei einer Veranstaltung des Magazins »Auto Bild Motorsport« angesprochen auf Schumacher. Überall in seinem Büro und seinen Wohnungen würden Bilder von Schumacher hängen, erzählte der 72 Jahre alte Franzose, der bei Ferrari als knochenharter Rennleiter wirkte. »Die Zeit mit Michael wird mir immer als die beste meines Lebens in Erinnerung bleiben.«