MÜNCHEN. Auch als ihn seine jubelnden Kollegen ungestüm zu Boden rissen, formte Leon Goretzka weiter mit seinen Händen ein Herz als besonderes Symbol.
Mit den Worten »Spread Love« (Verbreitet Liebe) und einem Regenbogenfahnen-Emoji kommentierte der Retter der deutschen EM-Mission später bei Twitter den speziellen Jubel über sein Tor zum erlösenden 2:2 der Nationalmannschaft gegen Ungarn.
Goretzka sticht als Joker
Der 34-malige Nationalspieler Goretzka, der seine große Öffentlichkeitswirkung als Fußballprofi immer wieder für soziale Botschaften nutzt, machte vor der Tribüne mit den dumpf lärmenden Gäste-Fans deutlich, dass Feindlichkeiten und Diskriminierungen jeder Art keinen Platz haben in den Stadien und darüber hinaus.
Sportlich flogen dem 26 Jahre alten Mittelfeldspieler des FC Bayern selbst die Herzen zu nach seinem schon 14. und mit großem Abstand wichtigsten Tor für Deutschland. Mit dem kapitalen Handicap eines Muskelfaserrisses war er in die Turniervorbereitung gegangen. Jetzt stach er als Joker. »Ich weiß gar nicht mehr genau, wer den Ball in den Sechzehner legt. Der Schuss von Timo Werner wird abgeblockt, dann fällt er mir vor die Füße«, schilderte Goretzka die Szene aus der 84. Minute in der Münchner Arena, die das Team von Joachim Löw ins Achtelfinale gegen England im Londoner Wembley-Stadion katapultierte.
Inzwischen kennt der Torschütze den Torvorbereiter natürlich auch. Sein erst 18 Jahre alter Bayern-Mitspieler Jamal Musiala war einfach nur »stolz« über seine ersten Minuten bei »so einem großen Turnier«. Und erst recht über seine Retterrolle als entscheidender Passgeber. Der Bundestrainer hatte dem Teenager bei der Einwechslung Folgendes mitgegeben: »Ich soll mir Sachen zutrauen, im Halbraum spielen, aggressiv nach vorne gehen. Das habe ich einfach gemacht.«
Löw beweist gutes Näschen
Youngster Musiala und der dynamische Goretzka brachen die Starre im Löwschen System auf, die fast zum nächsten historischen Vorrunden-Aus geführt hätte. »Wenn du von außen drauf schaust und merkst, es wird eng, nimmst du dir viel vor«, beschrieb Goretzka seine Warterolle auf der Bank bis zur 58. Minute. Viele hatten mit dem Startelf-Einsatz des gebürtigen Bochumers gerechnet. »Goretzka war klasse. Der hat viel Tempo reingebracht und die tiefen Wege gemacht«, lobte der Bundestrainer, der mit einem Bein in der DFB-Rentenzeit stand.
Auch bei Musiala hatte Löw ein gutes Näschen, obwohl er sich zu der Einwechslung erst neun Minuten vor Spielschluss entschloss. Der Bayern-Jungstar musste zuvor die Gruppenspiele gegen Frankreich (0:1) und Portugal (4:2) aus der Tribünenperspektive betrachten. »Er hatte einige gute Situationen, wenn es eng ist, das ist genau seine Stärke: Er war frech, hat Bälle gesichert. Es war eine sehr ansprechende Leistung für einen Spieler in seinem Alter«, sagte Löw: »Musiala war in einigen Aktionen wirklich gut. Da hat man seine Klasse gesehen.«
Während Goretzka nun in der K.o.-Phase auf ein Upgrade zum Startelf-Spieler hoffen darf, steht der mit 18 Jahren und 117 Tagen nun jüngste deutsche EM-Spieler Musiala vor einer auch persönlich sehr emotionalen Partie. Denn der in Stuttgart geborene Jungprofi lebte acht Jahre in England, kickte als Jugendlicher für den FC Chelsea. Als Pendler zwischen den Fußballwelten spielte er sowohl für die deutsche U-16-Auswahl als auch später für die Junioren der Three Lions bis hin zur U21.
»Auf mein Gefühl gehört«
Löw bemühte sich intensiv um Musiala und machte ihn im März diesen Jahres zum jüngsten Debütanten in der deutschen Nationalelf seit Ehrenspielführer Uwe Seeler, der heute 84 Jahre alt ist.
»Am Ende habe ich auf mein Gefühl gehört, dass es die richtige Entscheidung ist, für Deutschland zu spielen«, hatte Musiala sein Ja zur DFB-Elf begründet. Jetzt freut er sich auf das Spiel »gegen meine zweite Heimat«. Er kenne »ein paar Leute« beim Achtelfinalgegner. »Gegen England im Wembley ist ein großes Spiel, das wird interessant.« Gern mischt der Offensivspieler sogar beide Sprachen. »Ich bin einfach reingekommen mit confidence«, sagte Musiala nach dem Ungarn-Spiel; also mit Selbstvertrauen, mit Überzeugung.
Das fehlte Leroy Sané, der erstmals von Anfang an ran durfte. »Leroy und auch Robin Gosens kamen nicht ins Spiel, wie wir das gegen Portugal gesehen haben«, bemerkte Löw. Er verwies darauf, dass es »kaum freie Räume« gab. Entsetzt tobte der Bundestrainer kurz vor dem Abpfiff am Spielfeldrand, als Dribbler Sané bei einem Überzahl-Konter die große Chance auf das Siegtor schlampig verschenkte.
Die Spezialkräfte Goretzka und Musiala wollen nun in der K.o.-Runde ihre Spielanteile gerne erhöhen. »Ich habe Leon vor dem Spiel gesagt, dass es nach sechs Wochen Pause nicht ganz so einfach ist, von Beginn weg zu spielen. Es ist gut, wenn er nochmal den nächsten Schritt macht, wenn er 30, 35 oder 40 Minuten spielt«, beschrieb Löw die Situation: »Das Tor gibt ihm auch nochmal Auftrieb. Logischerweise ist Leon für uns ein wichtiger Spieler, weil er Dinge macht in der Defensive und Offensive, die der Mannschaft gut tun.« (dpa)