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Darts-Boom: Fan-Magnet und Millionenmaschine

Sie kommen als Donald Trump und mit Verkehrsleitkegeln auf dem Kopf - sie gehen oft euphorisiert. Beim Darts haben Fans ihren Spaß. Die deutschen Profis verfolgen unterdessen anspruchsvolle Ziele: Sie glauben an den großen Durchbruch ihrer Sportart.

Max Hopp
Im Fokus: Deutschlands Darts-Ass Max Hopp. Foto: Silas Stein
Im Fokus: Deutschlands Darts-Ass Max Hopp. Foto: Silas Stein

LONDON. Aller Anfang ist schwer - und manchmal ziemlich ernüchternd. Auf der Bühne im Frankfurter Südbahnhof werfen ein paar wenige Athleten kleine Pfeile auf eine Scheibe. Auf den Bierbänken sitzen gerade mal 20 Zuschauer. Die Stimmung? Sehr bescheiden.

Es ist ein Mini-Event, wenig beachtet. Im englischen Fernsehen wird diese Darts-Europameisterschaft 2008 trotzdem live übertragen. Zehn Jahre später steigt im Oktober 2018 wieder eine EM in Deutschland. Diesmal aber ist es wie bei einem Volksfest - und mit ausgelassener Stimmung.

Die neue Location? Westfalenhalle Dortmund. Über 25.000 Anhänger kommen über das EM-Wochenende verteilt, verkleidet als Donald Trump, Queen Elizabeth oder als Krokodil. Sie trinken den ganzen Tag über Bier aus riesigen Plastikhumpen, die meisten gehen nicht nüchtern, aber euphorisiert wieder nach Hause. Aus dem Kinder- und Kneipensport ist etwas ganz Neues, etwas Großes geworden. Und das Ding ist nicht am Ende - ganz im Gegenteil.

»Wenn wir wirklich mal ganz oben mitspielen, dann dreht das Publikum völlig durch«, prognostiziert Max Hopp. Der 22-jährige Hesse gilt als deutsches Ausnahmetalent und hat sich in den vergangenen Monaten mühevoll unter die besten 32 Spieler der Welt gekämpft. Viele Darts-Fans hoffen, dass er Deutschland mal in die internationale Spitze wirft. Und damit dem Boom noch mehr Nahrung gibt. So, wie es einst mit dem Radsport und Jan Ullrich, wie es mit Tennis und Boris Becker war. Aus Randsportarten entstanden »Tagesschau«-Themen.

DER ANFANG DES BOOMS

Schon in den vergangenen zehn Jahren ist das Interesse an Darts in einer Weise nach oben geschossen, die kaum jemand erwartet hätte. In Großbritannien ist das Wurfspiel schon länger ein Millionengeschäft. Der nächste große Markt wurde Holland. Von dort schwappte die Euphorie nach Deutschland. Heute füllt Darts hier Arenen. Manches ähnelt dabei den Computerspiel-Events, die Massen anlocken, und E-Sport-Veranstaltungen beim Fußball - nur eben mit realen Würfen statt digitalen Treffern.

Die Spieler nehmen ihr Tun extrem ernst, während die Fankultur sich eher wie Live-Unterhaltung oder Bierzeltstimmung im großen Stil anfühlt. Oder in anderen Worten: Lagerfeuer-Atmosphäre im 21. Jahrhundert. »Früher war Darts bekannt als Kneipensport und Vielraucherei, das ist es jetzt überhaupt nicht mehr, es geht wirklich um professionellen Sport«, ordnet Martin Schindler, zweitbester deutscher Darts-Profi, ein. 

Der 22 Jahre alte Strausberger kann von seinen Einnahmen an der Scheibe leben. Möglich macht das auch der immer größere Hype und die Vermarktung des Trends. »Es hat etwas von allem. Es hat natürlich etwas von Karneval, etwas vom Volksfest, etwas vom Fußballstadion«, beschreibt Schindler. Er hat da bei der EM gerade sein Erstrundenmatch verloren, doch der Stimmung im weiten Rund schadet das kein bisschen. Es wird einfach weiter gefeiert.

Darts bietet eine Inszenierung wie kaum eine andere Sportart. Riesige Schallverstärker sorgen dafür, dass das »Plong« nach jedem Wurf bis ins letzte Eck zu hören ist. Die Profis werden dargestellt wie Helden, laufen ein mit eigener Musik und kommen teilweise mit eigenen Tänzen auf die große, grell beleuchtete Bühne. Daneben erklingen Musikklassiker in hoher Frequenz: Der »Traum von Amsterdam« lebt auch in Riesa in Sachsen auf, das auf Rekord-Weltmeister Phil Taylor umgedichtete »Winter Wonderland« läuft ganzjährig.

DER BRITE TAYLOR ALS GOTT 

Der Virtuose des Sports ist und bleibt Taylor. Zwar hat sich der Engländer nach 16 WM-Titeln mit 57 Jahren von der großen Bühne verabschiedet, doch spielt »The Power« immer noch Schaukämpfe: circa 300 pro Jahr, was ihm weiterhin mächtig Geld einbringt. Auch in Köln macht er Station. »Ich liebe Deutschland. Die Turniere sind großartig, die Fans sind dabei, sie ziehen es richtig groß auf«, sagt Taylor. Auf dem T-Shirt eines Anhängers liest sich das so: »Männer spielen Fußball. Krieger spielen Rugby. Aber Götter spielen Darts.«

Die Begeisterung geht inzwischen soweit, dass das Privatfernsehen Promi-Specials zur besten Sendezeit auflegt und Taylor gegen die ehemaligen Fußballstars Lothar Matthäus (57) sowie Stefan Effenberg (50) und gegen H.P. Baxxter (52), den Frontmann von Scooter, an die Scheibe schickt. Taylor gilt als Sport-Millionär, er hat sich zur Marke stilisiert: Das T-Shirt, die Einlaufmusik, die Wurftechnik, alles ist Kult, alles hat sich durch Europa in den Hallen verbreitet.

Bis er dahin kommt, hat Max Hopp noch einen weiten Weg vor sich. Der Hype ist mit Blick auf die bisherigen Erfolge von deutschen Spielern eh verwunderlich. Ein deutscher Weltmeister? Fehlanzeige, bisher kam nie ein Deutscher auch nur über die dritte Runde hinaus, auch diesmal verpasste Hopp in London das Achtelfinale. Sobald ein Turnier beginnt, sind Engländer, Schotten und Niederländer regelmäßig die Sieganwärter - und die Deutschen schauen zu, wie die Konkurrenz die Pokale in die Höhe reckt.

»Ich denke, die Begeisterung wäre noch größer, wenn wir oben wären. Es ist quasi so wie beim Tennis. Tennis hat ja auch erst angefangen, groß zu werden, als Boris Becker Wimbledon gewonnen hat«, orakelt Schindler. Er erhofft sich einen »richtigen Boom«: einen wie mit Michael Schumacher bei der Formel 1, mit Ullrich als Tour-de-France-Sieger und den Tennisgrößen Becker und Steffi Graf.

MAX HOPP NIMMT ANLAUF

Darts als Volkssport? Das klingt mehr als vermessen. Doch das war das Ziel »Hunderttausende Zuschauer« beim Fehlstart vor gut zehn Jahren auch. Misst man in diesem Zeitraum, welche Sportart in Deutschland die größten Sprünge gemacht hat, kommt man an der Pfeilekunst nicht vorbei. Die Protagonisten wissen das, sie kennen ihre Popularität und die ihres Sports. Sie träumen vom ganz großen Wurf.

Ganz eng verwoben sind all diese Träume mit Hopp selbst. Der 22-Jährige aus Idstein ist der Ausersehene für Erfolge, die künftig noch mehr Geld, noch vollere Hallen und noch mehr Medienpräsenz bringen sollen. »Die Spieler werden immer besser, das Drumherum wird immer professioneller. Ich glaube schon, dass der Sport sich weltweit etablieren kann«, beteuert Hopp. 

Geht es nach der Beliebtheit bei den Fans und den Hoffnungen der übertragenden Anstalten, soll er der neue Ullrich, Becker oder Schumacher werden. Hopp, genannt »The Maximizer«, ist ein schlanker, sportlicher Typ, wirkt durchtrainierter als viele seiner Kollegen, die Bierbauch und Doppelkinn vor sich hertragen und nur entfernt aussehen wie Profisportler, die um Gelder in Millionenhöhe spielen.

Im Umgang mit der Öffentlichkeit wirkt Hopp trotz seines jungen Alters routiniert und freundlich. Als er im EM-Halbfinale von Dortmund gegen den späteren Champion James Wade aus England drei Matchdarts vergibt und eine bittere Niederlage kassiert, zieht er sich überwältigt von den Gefühlen zurück. Im Aufwärmraum fließen Tränen. Hopp sortiert sich wenig später und spult Interview um Interview ab. Für ihn, der Vollzeit-Profi ist, gehört das zum Beruf.

So hat Hopp einen Großteil der deutschen Profis abgehängt. Für über 99 Prozent bleibt Darts ein Hobby. Und bis zu einem gewissen Grad gilt nicht die Rechnung: Je besser du bist, desto mehr verdienst du. Sondern: Je besser du bist, desto zeitintensiver wird dein Hobby. 

Robert Marijanovic, bei der kommenden WM in London (ab 13. Dezember) einer der vier deutschen Teilnehmer, fasst es so zusammen: »Für mich war Darts dieses Jahr ein nettes Zubrot, ich bin ganz gut rausgekommen. Ich hatte quasi einen schönen Zweitjob. Man muss aber auch die Zeit dagegen rechnen: Da hätte es sich mehr gelohnt, wenn ich an der Tankstelle gearbeitet hätte.« Der Hype und das große Geld lassen eben nur die absolute Spitze weich landen.

Hopp selbst tourt durch Europa, spielt um Geld und kämpft um Weltranglistenpunkte. Das Spiel mit den Fans versteht hierzulande keiner so gut wie er - und er fühlt sich näher dran als beim Fußball: »Bei uns kann man beim Einlaufen viel eher abklatschen. Das macht viele Menschen sehr, sehr glücklich. Einige Kids, Männer und Frauen gehen megaglücklich ins Bett«, sagt Hopp. Wobei: Es sind schon hauptsächlich Männer, die beim Darts zuschauen und feiern.

DER VATER DES TRENDS 

Doch wie kam es überhaupt so weit? Was macht diesen Trend aus? Drei Pfeile, eine Scheibe auf 1,73 Meter Höhe, ein Abstand von 2,37 Metern und die wiederkehrenden Fragen von Kritikern: Ist das wirklich Sport? Ist das eher ein Kneipenspiel mit 50 Cent Einsatz am Spielautomaten? Auf diese Fragen haben Werner von Moltke und seine Kollegen Antworten gefunden - und Darts in Deutschland über mehrere Jahre hinweg salonfähig gemacht.

»Darts ist 90 Minuten Elfmeterschießen. Es geht ständig hin und her, das Spiel ist sehr leicht nachvollziehbar«, erläutert von Moltke. Als Chef des Verbands PDC Europe ist er quasi der Vater des Erfolgs in Deutschland. Von Moltke saß rund um Weihnachten 2005 in seinem Ski-Urlaub vor dem Fernseher und sah etwas, worin er Potenzial erkannte: das Duell von echten Kerlen an einer kleinen Scheibe. In ihm reifte die Idee: Was in England groß ist, kann auch Deutschland erobern. Von Moltke kündigte seinen Job als Verlagsleiter bei der »Bravo« und legte los mit seiner Pfeile-Manie.

Hat er diesen Aufstieg wirklich für möglich gehalten? »Wenn ich das nicht gedacht hätte, hätte ich es nicht gemacht«, sagt der 48-Jährige. Sein Blick ist eher ein anderer: Er war überrascht, dass die Darts-Show mit Elefanten, Riesenbabys und Super Marios im Publikum nicht eher verfangen hat.

»Viele haben schon gedacht: Der Moltke, der hat die Nerven verloren«, erzählt er über die Anfänge des Projekts »Darts in Deutschland«. Die Zahlen geben ihm heute recht: Es werden immer mehr Fans. Ein Millionenpublikum sieht in der Weihnachtszeit die WM vor dem Fernseher. Rund 300.000 Anhänger strömten im auslaufenden Jahr zur European Tour, die mit weniger als zwei Dutzend Zuschauern an einem tristen Abend angefangen hatte.

PEINLICH? KANN GAR NICHT SEIN 

Eine Gruppe mit Verkehrsleitkegeln auf ihren Köpfen sticht in der Westfalenhalle besonders heraus. Zum ersten Mal da? »Na klar.« Das Ereignis zählt, immer wieder heißt es: jubeln, singen, tanzen und natürlich trinken. Alles sieht aus wie ein ausgelassener Junggesellenabschied, Darts wirkt dabei wie die Schnittstelle zwischen Karneval in Köln und Ballermann auf Mallorca. Es gibt einfach keine Peinlichkeit.

Die jungen Männer kommen aus der Nähe der holländischen Grenze nach Dortmund. Sie haben ein Tagesticket, doch an 23 Uhr und den Auftritt von Darts-Primus Michael van Gerwen denkt keiner von ihnen am feuchtfröhlichen Nachmittag. »Die Abendsession? Die erlebt hier keiner mehr«, sagt einer und zeigt auf die Bierhumpen. Die anderen tanzen und grölen. Solche Kundschaft ist das Zielpublikum des Verbandes. Die Männer werden mit ihrer Ausgelassenheit zum Bestandteil des Events.

Und der Markt ist längst nicht erschöpft. Die privat organisierte PDC Europe sucht nach neuen Standorten für Turniere jenseits der Darts-fixierten Insel. In Gibraltar wird bereits gespielt, auch in Wien. 2019 kommt Tschechien mit Prag dazu, 2020 sind womöglich Italien und Ungarn dabei. Und hier? »Aktuell planen wir, die kleinen Hallen in Deutschland Stück für Stück durch größere zu ersetzen«, sagt von Moltke.

Die nächste Dimension haben Max Hopp und Co. aber eigentlich eh schon erreicht. Im Mai wurde die Fußballarena auf Schalke zum Darts-Partytempel umfunktioniert. Die Bilanz? 20.100 Zuschauer - damit wurde ein 79 Jahre alter Weltrekord aus London verbessert. Vor einer solchen Kulisse kann kein Bundesligist im Handball oder im Basketball spielen, weil schlichtweg die Arenen zu klein sind. 

Manche sehen Darts weiter als eine monotone und langweilige  Sportart. Dreimal werfen, zum Board laufen, warten, wieder dreimal werfen. Für die Profis ist es längst mehr. Hopp und Schindler betreiben Mentaltraining und gehen regelmäßig zum Sporttraining, um sich fit zu halten. »Man stellt sich das jetzt gar nicht so vor, aber wenn man mal acht Stunden auf den Beinen ist und immer Darts wirft und immer von der Wurflinie zum Dartsboard geht, da kommt dann schon einiges zusammen. Da braucht man schon einen gesunden Körper dafür«, analysiert  Schindler.

Das deutsche Duo Hopp und Schindler hat schon viele Hoffnungen geweckt. Selbst wenn es für die nächste Stufe noch einige Zeit brauchen könnte. Der Traum eines deutschen Coups hat sich nämlich auch bei der diesjährigen WM wieder nicht erfüllt, Hopp verlor im Achtelfinale gegen van Gerwen deutlich mit 1:4. Doch wer weiß, was die kommenden Jahre bringen? Sport-Manager von Moltke jedenfalls sagt voraus: »Wenn ein Deutscher wirklich eines Tages Darts-Weltmeister wird, dann passiert hier etwas ganz Verrücktes.« Er weiß und spricht offen aus: Sein florierendes Geschäft ist davon nicht mehr abhängig. (dpa)

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