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Schmerzmittelmissbrauch in der Kreisliga: Ein Reutlinger erzählt

Der Amateurfußball hat ein Schmerzmittelproblem. Das zeigen Recherchen von Correctiv und der ARD-Dopingredaktion in einer Kooperation mit dem Reutlinger General-Anzeiger. Laut einer nicht repräsentativen Umfrage nehmen etwa die Hälfte der Kicker mehrmals pro Saison Schmerzmittel, 21 Prozent sogar einmal pro Monat oder öfter – auch in der Region. DFB-Präsident Fritz Keller reagiert»schockiert« auf die Ergebnisse der Recherchen

Foto: Adobe Stock
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REUTLINGEN. An sein letztes Spiel ohne Einnahme eines Schmerzmittels kann sich Sven Riekert noch gut erinnern. »Das war im Dezember«, erklärt der 37 Jahre alte Fußballer des TSV Oferdingen, »aber auch nur, weil ich zu spät dran war. Das hätte nichts mehr gebracht.« Vor den fünf anderen Spielen, die Riekert in dieser Saison in der Reutlinger Kreisliga A auf dem Platz stand, hat er Ibuprofen-Tabletten eingenommen. Wann er zuletzt bewusst darauf verzichtet hat, kann Riekert nicht sagen: »Das ist bestimmt zehn Jahre her.«

Mit 15 Jahren hat Riekert schon seinen ersten Knorpelschaden im rechten Knie erlitten. In seiner Karriere kamen beim Kicken noch Knochenbrüche an der Schulter und im Handgelenk und ein Kreuzbandriss dazu. Bei Spielen auf Kunstrasen rissen ihm regelmäßig die Bänder in den Sprunggelenken. Dank Schmerzmittel und viel Klebeband um den lädierten Knöchel hat er trotzdem wieder gespielt. Einmal sogar auch mit einem angerissenen Kreuzband, erzählt Riekert. »Manchmal hab ich die Tabletten aber auch einfach nur vorbeugend eingenommen. Man fühlt sich dann vom Kopf her sicherer.«

Schmerzmittelmissbrauch im Fußball, bei Amateuren und in Profi-Teams: Reporter des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv und der ARD-Dopingredaktion sind dem Thema über Monate nachgegangen. Bei den Profis berichtet etwa der langjährige BVB-Verteidiger Neven Subotic über seine Erfahrungen aus der Kabine. "Was ich in den letzten 14 Jahren mitbekommen habe: Ibuprofen wird wie Smarties verteilt", sagt Subotic, der heute für Union Berlin spielt. "Für jedes kleine Aua gibt es quasi pauschal Ibuprofen." Subotic, 31, zweimal deutscher Meister mit Borussia Dortmund, sagt auch, die Spieler würden über mögliche Folgen in der Regel nicht informiert. "Es heißt dann immer: "Wenn du spielen willst, kannst du das nehmen, dann fühlst du dich gut, und dann spielst du." Er selbst halte sich, so gut es gehe, fern von den Mitteln.

Wie Smarties futtern auch die Mönchengladbacher Bezirksliga-Kicker vom Rheydter SV Schmerzmittel. »Die Tabletten holen wir meistens in Holland, da sind sie günstiger«, sagt der Trainer René Schnitzler, 35, der früher beim FC St. Pauli spielte. Schnitzlers Co-Trainer Ferdi Berberoglu hat beobachtet, was die Pillen mit den Spielern machen. »Die werden durch die Schmerzmittel lockerer. Damit die diesen Druck loswerden«, sagt er. Der Konsum zieht sich offenbar durch den ganzen Rheydter Kader. Laut Trainer Schnitzler ist das »im Amateurbereich sogar noch viel, viel mehr geworden«.

»Ibuprofen wird wie Smarties verteilt«

Auch der Reutlinger Sven Riekert kann einiges aus seiner aktiven Zeit, die er beim SV Degerschlacht und beim TSV Oferdingen in der A- und B-Liga verbracht hat, erzählen. Meistens hat er schon vor dem Treffpunkt mit der Mannschaft Ibuprofen-Tabletten eingenommen. Wenn Riekert mal selbst nichts mehr hatte, war meistens ein Vorrat im Mannschaftskoffer griffbereit, oder ein Teamkamerad half aus. »Ich hab mir teilweise irgendwas reingeschmissen, was jemand von seiner Oma hat mitgehen lassen – ohne genau zu wissen, was es war. Das war saudoof.«

Nico Gotthardt, der nach der aktuell unterbrochenen Saison als Trainer des Bezirksligisten FC Engstingen aufhört, hat in seiner Karriere den Eindruck gewonnen, dass »die breite Masse« der Amateurfußballer gelegentlich zu Schmerzmitteln greift. »Ich selbst habe gar nicht mehr ohne gespielt, bevor ich vor drei Jahren aufgehört habe«, erzählt der 29 Jahre alte ehemalige Mittelfeldspieler, der neun Knieoperationen hinter sich hat. »Die meisten Jungs haben etwas in ihrer Tasche«, hat Gotthardt beobachtet, »wenn einer Schmerzen hat, nimmt er eine Ibu.«

Dem will der SV Degerschlacht, Riekerts Ex-Club, einen Riegel vorschieben. »Wenn ein Spieler vor dem Spiel Probleme hat, kommt er immer zu mir«, sagt Co-Trainer Claus Klingeberg, beim A-Ligisten zuständig für die medizinische Betreuung. »Wir schauen dann, ob wir es konservativ behandeln können. Nur im Ausnahmefall gebe ich mal eine Ibu. Aber auf Dauer hat es keinen Wert, mit Schmerzmitteln zu spielen.« Wie es gelingt, dass die Spieler nicht eigenmächtig zu Tabletten greifen? »Die Jungs haben vollstes Vertrauen zu mir«, versichert Klingeberg, »auch wegen meiner langjährigen Erfahrung«.

Es gibt viele Stimmen aus der Region, die sagen, dass Schmerzmittel in ihren Vereinen kein Thema seien. »Ich habe nie Medikamente genommen«, erzählt Andreas Rill, der für den SSV Reutlingen in der 2. Bundesliga, Regionalliga und Oberliga am Ball war. Nur in Ausnahmefällen habe er bei Schmerzen eine Diclofenac-Tablette eingenommen. Der langjährige SSV-Mannschaftsarzt Dr. Gunnar Teucher erklärt, dass »immer mal wieder drei, vier Leute vor einem Spiel eine Diclofenac genommen haben. Das ist zum Unterdrücken von Schmerzen und vertretbar«.

Wie weit verbreitet ist es bei den Millionen deutschen Freizeitkickern, mit Schmerztabletten kurz vor Anpfiff zum Beispiel die Nervosität zu senken? Correctiv und die ARD-Dopingredaktion haben dazu eine Befragung unter Amateurfußballern aufgesetzt (Ergebnisse zum Download auf pillenkick.de). 1 142 Spieler beteiligten sich. Das Ergebnis der nicht repräsentativen Online-Erhebung: Etwa die Hälfte der Teilnehmer nehmen mehrmals pro Saison Schmerzmittel, 21 Prozent gar einmal pro Monat oder öfter. Als Grund gaben sie längst nicht nur die Bekämpfung von akuten Schmerzen an.

Fast 42 Prozent der Teilnehmer wollen mit den Pillen Einfluss auf ihre Leistung nehmen. Konkret wollen sie die Belastbarkeit erhöhen. Sie wollen Sicherheit gewinnen und den Kopf frei haben. Einige erklärten in der Befragung auch direkt, ihre Leistung steigern zu wollen. Für den Kölner Dopingforscher Hans Geyer sind Schmerzmittel im Sport Doping. Der Hoffenheimer Mannschaftsarzt Thomas Frölich sagt mit Blick auf Schmerzmittelkonsum im Sport, Doping sei »eigentlich grundsätzlich so definiert, dass jede Leistungssteigerung auf unnatürliche Weise, also abseits des Trainings oder der normalen Ernährung, als Doping gilt«. Auf der Liste der Welt-Antidoping-Agentur (Wada) stehen die Tabletten aber nicht.

»Fußball ist wie eine Sucht für mich«

Mit den möglichen Nebenwirkungen der Pillen setzt sich nur jeder dritte Teilnehmer der Befragung auseinander. »Ich hab mir eigentlich nie Gedanken gemacht«, sagt auch Sven Riekert. Dabei können die Mittel bei übermäßigem Konsum durchaus gefährlich sein: Sie können Magen, Herz und Nieren schaden. Einige Amateurspieler schilderten, was sie erlebten. Von »Abhängigkeit« und »ständigem Verlangen« schrieben sie, von »Blut im Stuhl« und »chronischen Entzündungen«, von »Darmbluten« und »hohem Blutverlust bei offenen Wunden«. Bei Riekert waren es irgendwann »Herzrasen und Schwindelgefühle«. Trotzdem hat der Mittelfeldspieler weiter Schmerzmittel genommen, »oft zwei Ibuprofen 600 auf einmal«. Zeitweise auch, um es montags in die Arbeit zu schaffen. »Als Mechaniker muss ich oft in die Knie gehen. Aber davon bin ich zum Glück schnell wieder weggekommen.«

Von den »Leberwerten, die durch die Decke gehen« schrieb bei der Befragung Felix Lenneper, ein Amateurspieler aus dem Sauerland. An seinem rechten Bein und Fuß zählt er heute 15 Verletzungen – Bänderrisse, Brüche, Knorpelschäden. So weit wäre es nicht gekommen ohne Schmerzmittel, die den Körper über jede Grenze der Vernunft noch einsatzfähig machen. Auf Verletzungen antwortete Lenneper schon als Jugendspieler mit Schmerzmitteln. Er startete mit Ibuprofen 400, steigerte auf zwei Ibuprofen 800 am Tag. Und endete beim synthetischen Opioid Tilidin. Bei der Befragung berichteten fünf Spieler, sie hätten Tilidin genommen, um weiter Fußball spielen zu können. Drei Spieler gaben Tramadol an, ein weiteres Opioid. Zweimal wurden die besonders wirkungsvollen Opioide Oxycodon und Desomorphin angeben.

Als wegen einer Grippe sein Blut untersucht wurde, erfuhr Lenneper, dass seine Leberwerte zehnmal höher als normal waren. Das Opiat Tilidin empfahl ihm ein Mitspieler. Ärzte verschreiben es Krebspatienten oder frisch operierten Menschen. Lenneper nahm mit 19 Jahren über einen Zeitraum von neun Monaten vor den Spielen regelmäßig eine halbe Tablette Tilidin. Zu Hause warf er manchmal noch nach. »Ich verspürte ein Verlangen«, sagt er heute. Bei einem Spiel im Frühjahr 2010 nahm wegen einer Zerrung eine komplette Tablette. Die Reaktion seines Körpers: »Meine Muskeln begannen zu zittern, ich hatte kalten Schweiß auf der Haut, Schwindel, alle Grippesymptome im Schnelldurchlauf.« Er quälte sich auf den Platz, sackte aber bald zusammen. Nach einer halben Stunde musste er sich erbrechen. Wenig später saß er im Krankenwagen. In der Notfallambulanz sprachen sie von einem Kreislaufkollaps. Dass Lenneper Tilidin genommen hatte, behielt er für sich. Insgesamt vier Jahre versuchte er noch, weiter Fußball zu spielen. 2015 musste Lenneper mit 24 Jahren seine Laufbahn beenden.

Sven Riekert spielt immer noch beim TSV Oferdingen, »aushilfsweise, wenn ich gebraucht werde. Ich will ja niemanden hängen lassen«. Die Einnahme von Schmerzmitteln bereut er nicht, auch wenn er weiß, dass er seinem Körper damit auf Dauer nichts Gutes tut (»Frag mich noch mal, wenn ich 50 bin.«) und ihm heute schon etwas die Knie und Knöchel schmerzen. Ans Aufhören denkt Riekert noch nicht. »Ich fühle mich einfach noch zu fit«, sagt der 37 Jahre alte Mittelfeldspieler, der auf dem Platz regelmäßig noch zu den Laufstärksten zählt. »Ich würde etwas vermissen.« Blödsinn zu reden mit den Kumpels im Training oder ein Bier trinken nach dem Spiel im Sportheim. »Fußball ist wie eine Sucht für mich.« (GEA)

Sven Riekert (links. Degerschlacht) und Toni Goenninger (Riederich). Foto: Langer
Sven Riekert (links. Degerschlacht) und Toni Goenninger (Riederich).
Foto: Langer