REUTLINGEN. Eine Klientin ist Florence Wetzel in den vergangenen 24,5 Jahren besonders in Erinnerung geblieben: Die sagte, »lieber lasse ich mich regelmäßig schlagen, als dass ich einsam und allein irgendwo lebe«. »Da habe ich Demut gekriegt«, sagt die 64-Jährige, die in Reutlingen die Beratungs- und Interventionsstelle »Häusliche Gewalt überwinden« aufgebaut und fast ein Vierteljahrhundert lang geleitet hat. Denn: »Wer bin ich zu entscheiden, was für diese Frau richtig oder falsch ist?«
In 24,5 Jahren hatte die Interventionsstelle in 5.000 Beratungen mit 1.500 Fällen von häuslicher Gewalt zu tun. »Die Stelle ist mein Baby, die gab es vorher nicht«, erklärt die Diplom-Sozialpädagogin mit Zusatzausbildung in Familienmediation und systemischer Beratung. Ihr Einsatz scheint nötiger denn je: Wurde die Polizei im Jahr 2010 in ihrem Zuständigkeitsbereich 65 mal zu Einsätzen wegen häuslicher Gewalt gerufen, waren es im vergangenen Jahr 235 mal.
Pionierarbeit im Modellprojekt
Seit Mai 2001 war sie zunächst im Auftrag des Reutlinger Gemeinderats und des Sozialamts in einem zweijährigen Modellprojekt mit der Überwindung von häuslichen Gewaltausbrüchen betraut - begleitet und evaluiert vom Soziologischen Institut der Uni Freiburg. »Damals war man erstmals auf die Idee gekommen, den im Polizeigesetz verankerten Platzverweis auch auf den häuslichen Bereich anzuwenden«, erklärt sie zum Start des Projekts, dem Interventionsstellen im ganzen Bundesgebiet folgten. Heute bezeichne man es als »Wohnungsverweis«, wenn nach einer Gewalttat im eigenen Zuhause nicht das Opfer flüchten muss - etwa in ein Frauenhaus -, sondern stattdessen der Täter den heimischen Bereich verlassen muss.

Von den anderen Interventionsstellen hebt sich Reutlingen bis heute ab: Während sich die allein um die Opfer häuslicher Gewalt kümmern und diese beraten, ist Reutlingen die einzige Kommune, »die sagt, wir wollen das auch für die Täter«, erklärt Florence Wetzel. Nach Einführung des Gewaltschutzgesetzes 2003 gehört der Bereich »Häusliche Gewalt überwinden« zum Reutlinger Diakonieverband. Zu 80 Prozent wird die Stelle von Stadt und Landkreis finanziert, zu zehn Prozent vom Sozialministerium. Mit der Finanzierung komme man, was die Beratung angeht, gut zurecht, betont sie. »Aber die Präventionsarbeit kommt permanent zu kurz.«
Der typische Ablauf
Wenn die Würtingerin Ende des Monats in die passive Altersteilzeit geht, ist sie überzeugt: »Diese Stelle ist nicht geeignet, sie zu 100 Prozent zu machen. Vollzeit häusliche Gewalt, das kostet zu viel Kraft.« Neben Wetzels 50 Prozent füllten sie in den besten Zeiten zu zehn Prozent ein männlicher Mitarbeiter - Sozialpädagoge, Systemischer Berater und GST-Trainer - sowie zu 30 Prozent eine weitere Sozialpädagogin aus. Heute steht ihr Nadine Heffels zu 40 Prozent zur Seite - übernimmt die Wetzels Nachfolge als Leiterin, stößt zu ihr demnächst Undine Zimmer hinzu. Die beiden empfangen dazu in der Planie 17 Männer und Frauen, die von Gewalt im häuslichen Umfeld betroffen sind - meist innerhalb der Familie, seit 2015 auch häufig in Flüchtlingsunterkünften, seltener in freiwilligen Wohngemeinschaften. 2024 waren 112 der Opfer Frauen, in drei Fällen war es der Mann, in fünf die Tochter oder der Sohn. Acht mal ging die Gewalt von Frau und Mann in einer Beziehung gleichermaßen aus. Mit gleichgeschlechtlichen Paaren hatte Wetzel 2024 nur einmal zu tun.

Nachdem jemand in der Küche, im Wohn- oder Schlafzimmer zugeschlagen oder zugestochen hat, ruft meist das Opfer, Angehörige wie Kinder oder aber Nachbarn die Polizei. Die spricht gegenüber dem Täter oder der Täterin zunächst für drei Tage einen Wohnungsverweis aus, der in der Regel vom Ordnungsamt um zwei Wochen verlängert wird. Darüber hinaus kann vom Gericht eine »Wohnungszuweisung« für sechs Monate beantragt werden. Da in dieser Zeit viel aufgearbeitet und organisiert werden muss, tritt da schon früh die Interventionsstelle auf den Plan. Am Anfang stehen oft zahlreiche Rechtsinformationen.
Die entscheidende Frage
Mit dem Satz »die soll sich halt trennen« ist es nicht getan. »Eine Trennung müssen die erstmal aushalten, Täter wie Opfer«, erklärt Wetzel. Wie es weitergeht, hängt von der Person ab, die körperlich verletzt worden ist: neue Chance oder Trennung? Das ist die entscheidende Frage. Weitere Fragen hängen oft mit Kindern, Unterhalt und psychischer Belastung zusammen. Anders als bei der Polizei geht es hier nicht um Strafverfolgung. »Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, was steckt hinter der Gewalt? Und was könnte helfen, dass diese künftig überwunden werden kann?«

Wetzel und Co. wollen »Kontakt aufnehmen mit den Menschen hinter ihrer Rolle«. Sie fragen: »Was macht das Opfer in diesem Fall zum Opfer? Was den Täter zum Täter?« Zunächst gelte es zu stabilisieren. Mut zu machen für den nächsten Schritt. Der kann über psychologische Beratung führen oder über die Trauma-Ambulanz des PP.rt. »Netzwerkarbeit ist da ein ganz wichtiger Aspekt.« Die Diakonie als großer Verband kann die Übergänge niederschwellig gestalten - etwa, wenn es zur nächsten Beratungsstelle nur eine Treppe runter geht. Nicht immer gelinge es in den ersten drei Sitzungen, bestehende Ängste zu relativieren. Das seien komplexe Situationen: »Die Ambivalenz ist gerade in solch emotionalen Abhängigkeitsbeziehungen groß.«
Wie Bauklötze und Wippe helfen
»Wir verurteilen ganz klar die Tat«, sagt Florence Wetzel. »Aber nicht grundsätzlich den Menschen.« Zumal es vorkommt, dass die Rollenverteilung nicht klar ist. Wenn etwa im Streit beide Beteiligten zuschlagen. Oder der körperlichen Gewalt psychische Angriffe vorangehen: permanentes Angiften, Sticheln. Grundsätzlich unterscheidet sie zwischen »Kontrollgewalt«, der nachhaltig eine Trennung folgen sollte, und »Konfliktgewalt«, bei der eine Ohrfeige oder ein Schubser auf Kommunikationsprobleme folgt. Die hat das Potenzial, dass Paare, die an sich und miteinander arbeiten, gewaltfrei weiter bestehen.
Statistik und Kontaktaufnahme
Der Anteil von Tätern in Fällen von häuslicher Gewalt, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehen, ist mit 20 Prozent »relativ hoch«. Wirke Alkohol zunächst entspannend, schlage das schnell um in Aggression, erklärt Florence Wetzel von der Interventionsstelle Häusliche Gewalt. 38 Prozent der Menschen, die 2024 in Reutlingen zuschlugen, litten unter psychischen Problemen. Auch bei den Opfern stellte dies mit 28 Prozent die häufigste Ursache dar. 30 Prozent der Täter und 26 Prozent der Opfer lebten in patriarchalen Familiensystemen. 26 Prozent der Opfer gaben zudem finanzielle Schwierigkeiten an.
In mehr als 80 Prozent der Fälle waren 2024 minderjährige Kinder direkt oder indirekt von der Gewalt zwischen ihren Eltern betroffen.
Sowohl 2023 als auch 2024 handelte es sich in 19 Prozent der Fälle um Wiederholungstäter.
Zu erreichen ist die Fachberatung und Interventionsstelle »Häusliche Gewalt überwinden« im Diakonieverband Reutlingen unter Telefon 07121 9486-0 und per E-Mail an diak.werk@diakonie-reutlingen.de (dia)
Zur Aufarbeitung stapelt die Beraterin schon mal Bauklötze. Oder stößt ihre vom Bruder handgeschnitzte Wippe an. Anhand der Holzfiguren und zweier Plexiglasscheiben, die für die Aura jedes Beteiligten stehen, lässt sich aufzeigen und nachzuvollziehen, wie sich eine Beziehung entwickelt. Indem Florence Wetzel einer Figur noch ein Element obendrauf setzt oder den Bauklotz auf der Wippe verschiebt, findet sie mit den Klientinnen und Klienten heraus, »an welcher Schraube man drehen kann, dass sich die Dynamik verändert«.
Der Anteil der Menschen - Opfer wie Täter - die als Kind Gewalt erfahren haben, ist groß. Entsprechend variiert die Dauer der Interventionen: »Manche Menschen begleiten wir zwei bis drei Jahre«, sagt die 64-Jährige. Denn jene entwickelten bereits in der Kindheit unbewusst Überlebensstrategien, die später möglicherweise gewaltsame Reaktionen bewirken können. Sich wegducken, allem zustimmen, das Konfliktpotenzial niedrig halten. »Das Tragische daran: Wir erleben es oft, dass sich solche Menschen gegenseitig anziehen.« Umso wichtiger sei es, diesen Kreislauf zu unterbrechen, sie aus der Gewaltspirale herauszuführen.

Aktuell erschwert der Datenschutz die Arbeit: Reichte früher die Einwilligung des Opfers, ist es heute erforderlich, dass auch der Täter explizit zustimmt, dass die Berater auf den Täter zugehen können. »Damit erreichen wir viel weniger Täter als zuvor«, stellt Florence Wetzel fest.
Einmal musste sie in den vergangenen 24,5 Jahren eine Frau zum Arzt begleiten, »weil ihr das Blut runtergelaufen ist«, blickt sie zurück. Einmal habe die Polizei nach dem Vorfall körbeweise Waffen aus der Wohnung getragen. »Niemand weiß, was jemand in der Tiefe des Innen für Ängste und Nöte hat, die deutlich schlimmer sind, als geschlagen zu werden«. Bei Fällen, wo bei gewalttätigen Vätern das Umgangsrecht juristisch nicht als verwirkt angesehen wird, geht ihr nach wie vor innerlich die Hutschnur hoch. Aber eine junge Klientin, die »eine schlimme Geschichte erlebt hat« und die über vier Jahre ihre Beratung aufsuchte, macht Hoffnung: »Ich glaube, die kann ich jetzt loslassen.« (GEA)

