REUTLINGEN. In einem Parkhaus in Reutlingen gerieten im Dezember vergangenen Jahres zwei junge Männer in Streit. Der eine hielt dem anderen eine Schreckschusspistole vors Gesicht und drückte ab. Das Opfer erlitt Verletzungen und wollte danach vom Schützen Schmerzensgeld. Der 19-Jährige ging zu einem Reutlinger Anwalt, um sich von ihm bei einer Zivilklage vor Gericht vertreten zu lassen. Der Anwalt nahm das Mandat an.
Wie das Schicksal so spielt, wird der Täter neun Tage später dem Haftrichter vorgeführt. Er brauche einen Anwalt, sagt der Richter. Der 20-Jährige entscheidet sich zufällig für den Opferanwalt, der dann vom Gericht als Pflichtverteidiger bestellt wird. Ein klassischer Interessenkonflikt, der natürlich verboten ist. Ein Anwalt darf nicht beiden Parteien in einer gerichtlichen Auseinandersetzung vertreten.
Der Staatsanwaltschaft fällt der Interessenkonflikt auf und schickt einen Strafbefehl über mehrere tausend Euro an den Anwalt. Der widerspricht dem Strafbefehl und so landet der Fall schließlich vor dem Reutlinger Amtsgericht. Die Staatsanwaltschaft beharrt darauf, dass der Anwalt vorsätzlich gehandelt hat, um an den strafrechtlichen Fall zu kommen, weil der lukrativer sei als eine Zivilklage. Der Anwalt, der jetzt selbst von einem Verteidiger vor Gericht vertreten wurde, widerspricht und sagt, es sei in der Alltagshektik nur ein Versehen gewesen. Nach der mehrstündigen Verhandlung am Donnerstag vor dem Amtsgericht entscheidet sich Richter Bendisch für die Version des Angeklagten und spricht ihn vom Vorwurf des Parteienverrats frei. Es sei beim Angeklagten zwar »alles nicht ganz optimal verlaufen«, einen Vorsatz wollte der Richter aber nicht sehen. (GEA)