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Tübinger Expertin: »Kita-System vor dem Kollaps«

Den Kitas fehlen Fachkräften. Warum der Einsatz von Quer- und Seiteneinsteigern Risiken in sich birgt, erklärt Dr. Gabriele Müller. Sie zeigt Alternativen auf.

In Reutlingen fehlen fast 400 Plätze für Kindergartenkinder.   FOTO: FOTOLIA
In Reutlingen fehlen fast 400 Plätze für Kindergartenkinder. FOTO: FOTOLIA
In Reutlingen fehlen fast 400 Plätze für Kindergartenkinder. FOTO: FOTOLIA

REUTLINGEN. Der Kinder- und Jugendhilfereport 2024 schlägt Alarm, und auch Dr. Gabriele Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Tübinger Institut für Erziehungswissenschaften, bestätigt das, was Eltern, Erzieherinnen und Kita-Träger ständig erleben: »Der sozialpädagogische Arbeitsmarkt ist leergefegt.« Das System Kita stehe vor dem Kollaps. Immer mehr Träger setzen deshalb auf Quer- und Seiteneinsteiger, um den Personalbedarf abzudecken. Doch ist dies eine dauerhafte Lösung? Was sagt die außenstehende Expertin zu solchen Plänen?

Dr. Gabriele Müller arbeitet am Institut für Erziehungswissenschaften  in Tübingen.
Dr. Gabriele Müller arbeitet am Institut für Erziehungswissenschaften in Tübingen. Foto: Privat
Dr. Gabriele Müller arbeitet am Institut für Erziehungswissenschaften in Tübingen.
Foto: Privat

Dr. Müller weiß um die prekäre Lage, in der sich Kita-Träger befinden. Sie wollen Öffnungszeiten ein- und die Wartelisten für Plätze möglichst kurz halten - und das trotz einer nie zuvor da gewesenen Fachkraftmisere. Pragmatische Lösungen entstünden aus der Not heraus, macht Gabriele Müller deutlich. Allerdings seien diese »rein quantitativ gedacht, es fehlt der qualitative Gedanke«. Sprich: Es wird in erster Linie überlegt, wen man noch beschäftigen könnte und wie man die bisherigen Standards für Qualifizierung lockern kann, um den Betrieb am Laufen zu halten – etwas, das viele Erzieherinnen mit Sorgen beobachten. Sorgen, die nicht unbegründet seien, wie Müller bestätigt. Eine der unumgänglichen Folgen sei beispielsweise, dass dann »die Betreuung stärker im Fokus steht, weniger die Bildung«.

Anspruch und Realität klaffen auseinander

Für das Fachpersonal mutet dies an wie eine Rolle rückwärts. Denn gerade im Bereich der frühkindlichen Bildung wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten ordentliche Fortschritte gemacht, betont die Erziehungswissenschaftlerin. Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 wurde klar, dass die deutsche Bildungspolitik eine andere Qualität braucht - beginnend mit den Kleinsten. Die Kompetenzanforderungen an Fachkräfte wurden seitdem vielschichtiger, Politik, Gesellschaft und Eltern erwarten qualitative Angebote, um die Kinder von Beginn an zu fördern.

Ein Anspruch, den engagierte Erzieherinnen auch an sich selbst haben. An dem sie in der Realität aber oft scheitern, weil die Einrichtungen konzeptionell und personell dafür nicht aufgestellt sind. »Es herrscht eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität«, erklärt die Wissenschaftlerin. Das sei für die Fachkräfte anstrengend und mitunter sehr belastend.

Zudem ändert sich auch die Lebensrealität in der Gesellschaft: »Wir leben in einer komplexeren, globalisierten Welt«, fasst es Dr. Müller zusammen, was sich darauf auswirkt, wie Kinder in ihrer Entwicklung begleitet werden müssen. Immer mehr Fachkräfte machen die Erfahrung, dass Kinder sie mit Verhaltensweisen herausfordern, die sie zunehmend an Grenzen bringen. Durch den starken Fokus auf Individualität müssen viele in der Kita zuerst lernen, wie man in der Gemeinschaft zurechtkommt, und auch die Zahl der Entwicklungsstörungen nimmt zu. Um diese Aufgaben meistern zu können, bedarf es einer qualifizierten Ausbildung.

Seiten - und Quereinsteigern fehle oft das Hintergrundwissen und sie sind schneller überfordert. Dies wiederum hat Folgen für das gesamte Team: Der Stress nimmt zu. Oft spüren dies auch die Kinder. »Studien zeigen, dass Stress und Überforderung grenzverletzendes Verhalten von Fachkräften gegenüber Kindern befördern.«

Es fehlt an Anerkennung

Dr. Müller nennt einen weiteren Grund, der für Frustration sorgt: die mangelnde Anerkennung. »Um diese wurde schon immer gerungen«, berichtet sie. Eine Besserung scheint nicht in Sicht. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2023, dass knapp 70 Prozent der befragten Erzieherinnen keine gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung wahrnehmen. Oft fühlen sie sich zu wenig ernst genommen, ihre Arbeit werde als etwas angesehen, das im Grunde jeder nebenbei erlernen könne. Die geplante Öffnung des Berufsfeldes könnte dieses Anerkennungsdefizit verstärken, so die Sorge von Dr. Müller. Steigt die Unzufriedenheit, wächst auch die Gefahr der Überlastung oder eines Berufswechsels der Fachkräfte - was die Krise wiederum verstärkt.

Wie könnte man aus diesem Teufelskreis herauskommen? Gabriele Müller plädiert zunächst einmal für »mehr Ehrlichkeit im Umgang mit den Fachkräften, die bei Entscheidungen mitgenommen werden sollten«. Oft werde der Einsatz von Nicht-Fachkräften als Not- oder Übergangsmaßnahme verkauft. Um dann doch dauerhaft installiert zu werden. Denn, auch das ist ihr wichtig, klarzustellen: Der Einsatz von Zusatzkräften könne durchaus eine Entlastung sein. Allerdings seien dafür systematische und pädagogisch durchdachte Team-Entwicklungsprozesse notwendig, die transparent ablaufen. Jeder brauche seinen Platz im Team-Puzzle und einen klaren Auftrag, jeder müsse wertgeschätzt und anerkannt werden. »Das ist kein Selbstläufer«, stellt sie klar, aber sie habe bei einer Studienreise in Reggio Emilia (Norditalien) erlebt, dass dies funktionieren könne.

Keine Standards für die Träger

Auch die Träger würde sie gerne etwas mehr in den Fokus rücken. Diese, so betont sie, spielen nämlich eine große Rolle für die Qualität der Kitas. Allerdings werde deren eigene Qualität weder diskutiert noch gebe es Standards dafür, oft liege die Verantwortung komplett im Bereich der Kommunen, die jedoch mit sehr unterschiedlichen ökonomischen und personellen Ressourcen ausgestattet sind. Es gibt einen Ausweg aus der Fachkraftmisere, ist Dr. Gabriele Müller überzeugt. Aktuell mangle es jedoch an »Mut und politischem Willen«, so ihr Fazit. Und das braucht es, um Kita-Teams für die Zukunft aufzustellen. (GEA)

Zur Person

Dr. Gabriele Müller ist akademische Mitarbeiterin in der Abteilung Sozialpädagogik und Beauftragte für den Studiengang Höheres Lehramt an beruflichen Schulen Sozialpädagogik/Pädagogik und allgemeinbildendes Zweitfach. Schwerpunkte in der Forschung: Pädagogik der frühen Kindheit, Inklusion und Diversität, Multiprofessionalität, Theorie-Praxis-Verhältnis, Rekonstruktive Sozialforschung - Dokumentarische Methode. Im Oktober 2024 hat sie einen Artikel verfasst zum Thema »Innovative Teamkonzepte als Ausweg aus der Fachmisere?« (awe)