REUTLINGEN. Der Mensch auf der Anklagebank ist krank und kriminell. Wegen versuchten Totschlags hat das Schwurgericht am Landgericht Tübingen am Freitag einen 28 Jahre alten Eritreer zur einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt. Er hatte im April dieses Jahres seinen Zimmernachbarn in einer Reutlinger Asylbewerberunterkunft mit dem Messer verletzt. Seine Schuld leugnete der Mann bis zuletzt. Dieses Verhalten trotz eindeutiger Beweise ist laut einem Gutachter ein Teil seiner durch Kokainkonsum hervorgerufenen Probleme. Festgestellt wurde eine verminderte Schuldfähigkeit, die den Beschuldigten aber keinesfalls vor einer Strafe bewahrt.
Lebensgefährliche Verletzungen wären möglich gewesen
»Lediglich dem Zufall ist es zu verdanken, dass es nur zu vergleichsweise harmlosen Verletzungen kam«, sagte Staatsanwältin Isabell Mühlenbruch in ihrem Plädoyer. Unter Würdigung aller objektiven Fakten handele es sich eben keinesfalls lediglich um eine schwere Körperverletzung. Zwar gehe sie von einem »mittelschweren Fall« aus, aber dennoch forderte sie nach einer ausführlichen juristischen Diskussion eine Haftstrafe von vier Jahren und vier Monaten.
Verteidiger Hans-Christoph Geprägs gab zu bedenken, dass durch eine für Bewährung zu lange Haftstrafe jenseits von zwei Jahren nichts gewonnen wäre. Womit er meinte, dass sein Mandant ohnehin nach Eritrea zurückkehren wolle, im Gefängnis entstünden bis zur Abschiebung nur überflüssige Kosten. An der Schuld seines Klienten habe auch er keine Zweifel. Es sei ein faires Verfahren gewesen. Geprägs plädierte für die Verurteilung der Tat als gefährliche Körperverletzung.
Das Schwurgericht unter Vorsitz von Richter Armin Ernst hielt eine Haftstrafe von vier Jahren für versuchten Totschlag für angemessen. Die Stichbewegungen des Angeklagten hätten auch lebenswichtige Organe im Oberkörper treffen und somit tödlich für das Opfer enden können. Während des Verfahrens hatte sich das Gericht viel Zeit gelassen, um den Fall restlos aufzuklären.
Beweisaufnahme mit zahlreichen Zeugen
An zwei Verhandlungstagen wurden viele Zeugen stundenlang zur Sache befragt: das Opfer, Hausbewohner und mehrere Polizisten. Nach ihren Aussagen scheint gesichert, was sich am 1. April um die Mittagszeit in der Unterkunft abgespielt hat: Nachts hatte sich einer der Bewohner über laute Musik im Nebenzimmer beschwert. Am Morgen danach trafen sich die beiden Kontrahenten kurz in der Küche. Danach kam es vor einem Zimmer zum blutigen Konflikt. Der 2016 nach Deutschland gekommene Angeklagte, der sich durch die Lärmbeschwerde offenbar beleidigt fühlte, lauerte seinem kamerunischen Nachbarn mit einem schwarzen Messer auf, führte dreimal Stichbewegungen von oben nach unten aus.
Im Gerichtssaal
Richter: Armin Ernst (Vorsitz), Benjamin Meyer-Kuschmierz, Dr. Felix Schmidhäuser. Staatsanwältin: Isabell Mühlenbruch. Verteidiger: Hans-Christoph Geprägs. Sachverständiger: Bogdan Avasiloaei.
Das Opfer verteidigte sich
Der angegriffene Kameruner nutzte seine Kampfsporterfahrung, um sich zu verteidigen, wurde dabei an beiden Händen verletzt. Eine klaffende Wunde musste im Klinikum am Steinenberg genäht werden. Er brachte den Eritreer zu Boden und hatte sogar Gelegenheit, den Notruf zu wählen. Mehrfach hörte sich das Gericht die Aufzeichnung dieses Telefonates an, das Satz für Satz - wie alles andere auch - von einer Übersetzerin mühsam für den Angeklagten verständlich gemacht wurde. Ob er allerdings wirklich begriffen hat, was während der Beweisaufnahme festgestellt wurde, blieb offen. Der aus der Haft gefesselt in den Sitzungssaal gebrachte Mann wirkte während seines Prozesses teils geistig abwesend bis desinteressiert.
Die Hintergründe der Tat erklärte als Gutachter Bogdan Avasiloaei, Leiter der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Bad Schussenried. Die Stunden nach der Festnahme im Blut des Angeklagten gemessene Konzentration von Kokain lasse den Schluss zu, dass der Proband zur Tatzeit eine »Psychose mit paranoiden Zustand« gehabt habe. Der Drogenmissbrauch erkläre seine Gewalttätigkeit und Erinnerungslücken. »Er gab an, nichts getan zu haben. Es sei nur Theater und nichts passiert«, zitiert Avasiloaei aus seinem Gespräch mit dem Eritreer. Zusammenfassend diagnostiziert der Fachmann eine »verminderte Schuldunfähigkeit«, aber weder die Notwendigkeit zur Unterbringung in einer forensischen Klinik noch einer Entziehungskur. Beides berücksichtigte das Gericht in seinem Urteil. (GEA)

