REUTLINGEN. Stoll war einst Weltmarktführer für Flachstrickmaschinen. Wer hier eine Lehre begann und später einen Arbeitsplatz angeboten bekam, der konnte sich überaus glücklich schätzen und seine Zukunft planen. Nicht allein wegen der guten Arbeitsbedingungen bei dem tarifgebundenen Unternehmen. Sondern vor allem, weil Stoll als Generationenunternehmen ein Stück Familie war. »Von vielen Kollegen haben hier schon die Väter und Großväter gearbeitet«, berichtet Frank Wittel, Betriebsratsvorsitzender, Kümmerer vor allem in diesen Tagen, wo für so manchen Stoll-Beschäftigten eine Welt zusammenbricht. »Wenn man sieht, wie sich erwachsene Menschen mit Tränen in den Augen voneinander verabschieden, das sind Momente, die man nicht vergisst.«
»Keiner hat den anderen im Stich gelassen«
Wie so viele seiner Kollegen ist auch Frank Wittel ein Urgewächs der Firma Stoll. Hier hat er 1984 seine Ausbildung zum Industriemechaniker begonnen, durchlief er mehrere Bereiche wie die Fertigung und Elektronikabteilung, bis er als Betriebsratsvorsitzender freigestellt wurde. »Jetzt habe ich die traurige Pflicht, zu schließen«, sagt der 58-Jährige. Und an die Unternehmensleitung gerichtet: »Man schmeißt die Leute ins kalte Wasser und sagt: Schaut, wie ihr zurechtkommt. Hauptsache, wir sparen Kosten ein.«
Als im Januar den 270 Stoll-Beschäftigten mitgeteilt wurde, dass im Herbst das Traditionsunternehmen Geschichte sein könnte, da seien die Kollegen total am Boden zerstört gewesen, berichtet Wittel im Rückblick. »Wir wussten, dass es schwierig ist, aber wir haben nicht mit einer kompletten Schließung gerechnet.« Zumal Stoll bis heute einen riesigen Kundenstamm habe und nach wie vor volle Auftragsbücher, in vielen Bereichen werde noch unter Vollauslastung gearbeitet, um alle Aufträge abschließen zu können. Viele Kollegen hatten sich privat eine Existenz aufgebaut, eine Wohnung gekauft, ein Haus gebaut, eine Familie gegründet. »Und plötzlich bricht die Existenz weg.« Wittel ist froh, dass der Aufbau einer Transfergesellschaft erstritten werden konnte, das verschafft den Beschäftigten ein wenig Luft und treibt sie nicht sofort in die Arbeitslosigkeit. »Wir hatten hier immer ein unglaublich gutes Betriebsklima. Das, was wir hier hatten, war etwas Besonderes. Und wir haben die jungen Leute mit hineingenommen, haben ihnen auch soziales Verhalten wie Kollegialität und Zuverlässigkeit vorgelebt.« Bei Stoll habe er für sein ganzes Leben gelernt, betont Wittel. »Wir haben gemeinsam gekämpft, sind immer füreinander eingestanden. Da hat keiner den anderen im Stich gelassen.«
»Wir sind und bleiben Stoller«
Angst um die Existenz ist das eine, der Verlust einer Kollegenschaft das andere. Beides habe psychische Spuren bei den Kollegen hinterlassen, berichtet Wittel. Er ist deshalb froh, dass er als Teil des Abwicklungsteams noch ein Jahr lang vor Ort ist und auch als Betriebsratsvorsitzender weiterhin für die Kollegen da ist, sie berät, sich um ihre Angelegenheiten kümmert, ein offenes Ohr für sie hat. Der eine oder andere wird eine neue Stelle finden, auch wenn Jobs derzeit in der Region rar gesät sind. Aber Wittel weiß auch, dass es nicht einfach sein wird, sich in einem neuen Betrieb zurechtzufinden. Erst recht nicht, wenn man aus einem Unternehmen kommt, das ein Stück Familie war.
Familie, das Wort fällt auch bei Ralf Henes immer wieder. Der Zusammenhalt in der Belegschaft sei überaus gut gewesen, weshalb es ihm auch sehr schwerfalle, dass ausgerechnet in seiner Generation der Betrieb eingestellt werde. Zwar hatte man mit Einsparmaßnahmen gerechnet, dass dann aber eine komplette Schließung angekündigt wurde, das sei ein schwerer Schlag für die Belegschaft gewesen. Aber, hebt der 60-Jährige hervor, »wir sind und bleiben Stoller«. 1983 trat Henes in die Firma ein, absolvierte eine Lehre zum Industriemechaniker und arbeitet bis heute als Detailkonstrukteur. Weit über das rein Berufliche hinaus hat sich Henes in dem Unternehmen engagiert. Er war 32 Jahre lang Betriebsrat, Brandschutz- und Sicherheitsbeauftragter und sogar 28 Jahre lang Redaktionsmitglied bei der Stoll’schen Werkszeitung »Unsere Masche«. Für diese Zeitung, die dreimal im Jahr erschien, recherchierte er Geschichten im Betrieb, porträtierte Kollegen, stellte Kunden und Lieferanten vor und berichtete über alles, was sich in der Firma tut. »Die Kollegen freuten sich immer schon auf die neue Ausgabe.«
Dass der Zusammenhalt bis zum letzten Tag aufrechterhalten werde, das hebt Henes besonders hervor. »Obwohl wir seit Januar wissen, dass Stoll wohl geschlossen wird, haben wir zu keinem Zeitpunkt das Engagement heruntergeschraubt.« Natürlich sei auch viel Frust dabei, räumt Henes ein, man habe das alles erst einmal innerlich verkraften müssen. »Aber dann haben wir uns gesagt: Wir halten zusammen und führen die Firma in Anstand bis zum Ende.« Die außergewöhnliche Kollegialität sei auch mit der Grund gewesen, so viele Jahre bei Stoll zu bleiben. »Man war hier immer zufrieden und mit der Firma verflochten.« Dies sei sicherlich auch eine Generationensache und heutzutage nicht mehr selbstverständlich, sagt Henes. Er selbst bleibt im Abwicklungsteam der Firma, danach wechselt er in die Transfergesellschaft. »So habe ich erst einmal eine Perspektive. Was danach kommt, weiß ich nicht.«
Eigentlich müsste er ja schon noch ein paar Jahre arbeiten, sagt der ebenfalls 60-jährige Gerhard Nonnenmacher. »Jetzt muss ich sehen, wie es weitergeht. Aber es gibt Leute, denen geht es schlechter als mir, die haben richtige Existenzängste.« Nonnenmacher ist seit 1981 bei Stoll beschäftigt, gelernter Industriemechaniker und hat in dem Unternehmen viele Abteilungen durchlaufen: vom Werkzeugbau über die Terminüberwachung bis zur Personalplanung, vom Leiter des Auftragsteams für Auswärtsfertigung bis zum stellvertretenden Werksleiter. Heute ist Nonnenmacher in der Montage-Produktionsplanung tätig.
Nonnenmacher kennt den Strickmaschinenhersteller wie kaum ein anderer. »Ich habe mich nie um eine Stelle innerhalb der Firma beworben. Man hat mich immer gefragt, ob ich nicht dies oder jenes machen will«, berichtet er im Rückblick. Kein Wunder, denn in einem Unternehmen, das auf seine Mitarbeiter setzt, kennt man sich und spricht die geeigneten Köpfe direkt an. 44 Jahre und acht Monate seines Lebens hat Nonnenmacher bei Stoll verbracht. Ein ganzes Arbeitsleben, ein halbes Leben. »Bei Stoll hat man die Mitarbeiter immer sehr wertgeschätzt. Bei Karl Mayer war das nach der Übernahme nicht mehr so«, sagt Nonnenmacher unumwunden. Denn die alten Chefs, das seien noch richtige Unternehmer gewesen und hätten gewusst, wie wichtig es sei, dass die Mitarbeiter zufrieden sind.
»Bei Stoll hat man die Mitarbeiter immer sehr wertgeschätzt«
Mit Wehmut blickt Nonnenmacher auf die 1990er- und 2000er-Jahre zurück, »ganz tolle Jahre« seien das gewesen. Da habe man als Weltmarktführer zusammen mit der Technischen Universität München und dem dortigen führenden Wissenschaftler Professor Wildemann Projekte ins Leben gerufen und angeleitet. »Wir haben in Reutlingen eine Modellfirma entwickelt und viele führende Firmen haben ihre Leute zu uns geschickt, damit sie sich bei Stoll weiterbilden können.« Damals habe man die Mitarbeiter mitgenommen, ihre Ideen umgesetzt, mit dem Können der Mitarbeiter Prozesse verbessert. »Das war für mich die schönste Zeit, weil wir gesehen haben, wie wir vorankommen und wie wir etwas bewirken können.«
Großen Respekt zollt Nonnenmacher allen seinen Kollegen. Denn trotz der Schließungs-Ankündigung seien alle voll dabei, um die in Auftrag gegebenen Maschinen fertig zu bauen. »Das zeigt den Charakter der Leute. Das ist Stoll.« Es sei wie im Sport, sagt Nonnenmacher. Wenn man ein gutes Team habe, könne man vieles erreichen. »Die Leute hier hatten eine enge Bindung zur Firma. Das ist heute leider in vielen Betrieben verloren gegangen, weil nur noch auf Umsatz und Gewinn geschaut wird. Aber bei Stoll, da hat man immer auf die Menschen geschaut.«
Am 31. Oktober wird sich Gerhard Nonnenmacher morgens nochmals auf den Weg zur Firma machen. Ein letztes Mal. Aber, sagt er, der Kontakt zu den Kollegen werde bestehen bleiben. Das hat er sich fest vorgenommen. (GEA)




