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Minen und Angst im Krieg: Zwei Reutlinger erinnern sich

Der GEA lässt die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs zu Wort kommen. In dieser Folge erinnern sich zwei zugezogene Reutlinger: Wolfgang Herfter (91) an die Luftangriffe auf Leipzig und Heinz Parthum (104) an die Kriegsgefangenschaft bei den Franzosen.

Aufräumarbeiten: Der von Luftangriffen zerstörte Leipziger Bahnhof 1947.
Aufräumarbeiten: Der von Luftangriffen zerstörte Leipziger Bahnhof 1947. Foto: Fotoarchiv für Zeitgeschichte
Aufräumarbeiten: Der von Luftangriffen zerstörte Leipziger Bahnhof 1947.
Foto: Fotoarchiv für Zeitgeschichte

REUTLINGEN. Am 1. September 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbrach, rannte Wolfgang Herfter gemeinsam mit ein paar Freunden völlig euphorisch durch die Straßen. »Krieg! Krieg! Krieg!« jubelten die Buben. Sie waren damals fünf Jahre alt. Eine irrwitzige und irgendwie auch tragische Szene, an die sich der 91-Jährige noch glasklar erinnert. »Wir hatten doch keine Ahnung, was das wirklich bedeutet.« Wolfgang Herfter sitzt an diesem Oktober-Vormittag im Sessel seiner Wohnung im Seniorenzentrum Gertrud Luckner und schüttelt den Kopf. »Das sehen Sie mal ... Wir haben als Kleinkinder schon eingesäuselt bekommen: Wir Deutschen sind die Größten, die anderen sind schlecht.«

Kinder wurden zur bedingungslosen Loyalität gegenüber Führer und Nazi-Deutschland erzogen. Viele Eltern sprachen vor ihren Kindern kein Wort über Politik und Krieg, berichten vom GEA interviewte Zeitzeugen. Aus Angst, dass die Kinder sie bei Partei-Funktionären verpetzen könnten. Als Wolfgang Herfter 10 Jahre alt war, kam er zum Deutschen Jungvolk, zu den Pimpfen, der Kinderorganisation der Hitler-Jugend. »Mein Vater, SPD-Mitglied, hat damals gesagt: Diese Uniform kaufe ich dir nicht!« Herfter macht eine Pause. »Dann hab' ich gesagt: Dann zeige ich dich an!« Er bekam seine »Pimpf«-Uniform - und schämt sich noch heute für diesen Moment.

»Dann hab' ich gesagt: Dann zeige ich dich an!«

Wolfgang Herfter wurde 1934 geboren und wuchs als Einzelkind in Leipzig-Mockau auf, in einer Siedlung, die in den ersten Jahren der Nazi-Herrschaft erbaut worden war. »Die Familien mussten viel in Eigenleistung bauen und haben die Häuser dann für billig Geld bekommen«, erzählt Herfter. »Diese Art der Unterstützung war eine feine Sache.« Ärmere Arbeiterfamilien konnten sich so ein Eigenheim leisten. Und die Nazis sicherten sich Rückhalt in der Bevölkerung.

Kindheitserinnerungen von Wolfgang Herfter: Links oben ist er (weißes Oberteil) gemeinsam mit seinem Cousin Paul zu sehen, der e
Kindheitserinnerungen von Wolfgang Herfter: Links oben ist er (weißes Oberteil) gemeinsam mit seinem Cousin Paul zu sehen, der es Jahre später gerade noch so mit dem letzten Flieger aus Stalingrad raus geschafft hat. Die anderen beiden Fotos zeigen den jungen Wolfgang mit seiner Tante, bei der er aufwuchs, und deren Mann. Foto: Kathrin Kammerer
Kindheitserinnerungen von Wolfgang Herfter: Links oben ist er (weißes Oberteil) gemeinsam mit seinem Cousin Paul zu sehen, der es Jahre später gerade noch so mit dem letzten Flieger aus Stalingrad raus geschafft hat. Die anderen beiden Fotos zeigen den jungen Wolfgang mit seiner Tante, bei der er aufwuchs, und deren Mann.
Foto: Kathrin Kammerer

Es gibt noch eine Erinnerung, die sich tief in Wolfgang Herfters Gedächtnis eingebrannt hat. »Die Hauptschule, auf die ich nach der Grundschule ging, war in Sichtweite zum Flughafen. Und dann war eines Tages wieder Voralarm. Und wir rannten vom vierten Stock in den Keller.« Die Buben, damals neun oder zehn Jahre alt, wurden vom Rektor aber direkt wieder nach oben geschickt. »Er hat gesagt, wir sollen anständig und in Reih' und Glied nach unten gehen.« Also leisteten die Kinder der Anweisung Folge. Unten angekommen, kam dann der Vollalarm. Amerikaner oder Engländer, Herfter weiß es nicht so genau, bombardierten den Flughafen. Und warfen schließlich auch eine Bombe auf seine Schule.

»Dann kam ein Knall. Und alles war voller Staub«

»Wir hatten einen guten Lehrer, der war Soldat. Und der hat das Pfeifen gehört. Der wusste, was nun kommt und hat nur geschrien, dass wir hecheln sollen.« Um den Luftdruck im Körper auszugleichen. »Dann kam ein Knall. Und alles war voller Staub.« Die Bombe war durchs Dach gebrochen, ins Treppenhaus gefallen und auf der Kellertreppe explodiert. »Wir haben nur noch die kleinen Notleuchten als Punkte gesehen. Und dann haben wir uns an den Händen gehalten und sind durch den Seitenausgang rausgegangen.«

Es ist Herfters dramatischste Bomben-Erinnerung, aber bei weitem nicht die einzige. »Wir hatten am Ende jede zweite Nacht Fliegeralarm.« Die Menschen lebten im Dauerstress und stumpften irgendwann ab. Angst? »Das hatten wir als Kinder nicht, das war komisch ...« Herfters Onkel und Tante wohnten in der Leipziger Innenstadt. »Sie waren lange kinderlos und hatten mit 42 noch ein Baby bekommen. Dann war Fliegeralarm, sie sind in den Keller gegangen. Ein Bombe schlug ins Haus ein und durch den Druck wurde eine Klappe für den Schornsteinfeger aus dem Kamin geschleudert.« Die Metallklappe krachte auf den Kinderwagen in dem das Baby lag. Es war sofort tot. An einem anderen Tag war seine Mutter am Leipziger Bahnhof, als dieser von Bombern angegriffen wurde. »Sie konnte in einen Tunnel flüchten und hat überlebt. Aber viele sind gestorben.«

»Das Geräusch kannte ich nicht. Und da hab ich dann das erste Mal wirklich Angst bekommen«

Leben oder Tod? Das wurde in diesen Wochen und Monaten ein Stück weit auch zu einer Glücksfrage. »Rund einen Kilometer von uns entfernt waren die mitteldeutschen Motorenwerke, die wurden natürlich ständig bombardiert«, erinnert sich Herfter. Eine Bombe landete bei seinem Nachbar im Garten, eine andere auf der Straße. Einmal wurden flüchtende Menschen von Tieffliegern beschossen. »Das Geräusch kannte ich nicht. Und da hab ich dann das erste Mal wirklich Angst bekommen.« Herfter rannte nach Hause und versteckte sich unter der Kellertreppe. Ein anderes Mal zischte ein Düsenflugzeug über den jungen Wolfgang und seinen Freund hinweg. Auch dieses Geräusch war unbekannt. »Wir sind aus Reflex über einen Zaun in einen Wassergraben gesprungen«, erinnert sich der 91-Jährige.

Wolfgang Herfter erinnert sich an viele Bombenangriffe auf Leipzig. Einmal wurde seine Schule getroffen.
Wolfgang Herfter erinnert sich an viele Bombenangriffe auf Leipzig. Einmal wurde seine Schule getroffen. Foto: Kathrin Kammerer
Wolfgang Herfter erinnert sich an viele Bombenangriffe auf Leipzig. Einmal wurde seine Schule getroffen.
Foto: Kathrin Kammerer

Nach einem weiteren Luftangriff musste Herfter zu seinem Vater durch Leipzig laufen, »es fuhr ja keine Bahn mehr«. Er kam in der Innenstadt an einem Garten vorbei. Und auch dieses Bild hat er heute noch glasklar vor Augen. »Da lagen zwei kleine Päckchen im Garten. Tote, eingewickelte Kinder. Das sind Dinge, die man nie wieder vergisst.« Als der Krieg zu Ende war und zunächst die Amerikaner einmarschierten, waren drei Cousins von Wolfgang Herfter im Krieg gestorben. »Ein Onkel von mir hatte drei Söhne. Zwei sind in Russland bei den Panzern gefallen. Der dritte Sohn wurde dann wieder nach Deutschland geholt, von der Front weg. Damit die Blutlinie nicht ausstirbt.« Sein geliebter Cousin Paul hatte die Schlacht um Stalingrad überlebt. »Er hatte Gelbfieber und wurde mit dem letzten Flieger noch ausgeflogen.«

»Da lagen zwei kleine Päckchen im Garten. Tote, eingewickelte Kinder«

Wolfgang Herfter schaut heute mit Skepsis auf manche Entwicklung. »Wissen Sie, die AfD, diese Leute haben einfach nichts gelernt. Dieses Gesäusel hab' ich als Kind schon gehört. Vielleicht ist es heute ein wenig anders, nicht ganz so radikal. Aber auch damals hieß es immer: Wir, wir, wir ...«

Ein Stockwerk über Wolfgang Herfter lebt ein Mann, der den Zweiten Weltkrieg aus einer weiteren Perspektive schildern kann. Heinz Parthum hat im September seinen 104. Geburtstag gefeiert und ist damit der älteste Reutlinger. Jahrgang 1921 - bei Kriegsbeginn waren Heinz Parthum und seine Freunde 18 Jahre alt. Damit nahmen sie eine besonders tragische Rolle im Verlauf des Krieges ein. Die jungen Männer waren 1939 genau in dem Alter, in dem man als Wehrpflichtiger eingezogen wurde. Laut Studien des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat der Jahrgang 1921 am meisten gefallene deutsche Männer zu beklagen: Mehr als 200.000 von Heinz Parthums Jahrgängern ließen im Krieg ihr Leben.

»Ich war dumm und hab mich freiwillig gemeldet«, sagt Parthum heute. Nach einer Grundausbildung im Schnelldurchgang ging es auch direkt los. Parthum war bei den Fliegern. Zum Pilot habe es nicht gereicht, erinnert er sich. »Ich war Bordschütze.« Irgendwann kam er in russische Gefangenschaft, »aber die wussten nichts anzufangen mit den vielen Menschen«. Also sei eine »Tauscherei« der Gefangenen losgegangen. Schließlich landete Parthum in französischer Gefangenschaft. Und da begann der quälende Hunger. »Das war schlimm. Mir ging es so schlecht, dass ich mich freiwillig zu den Mienensuchern gemeldet habe. Man hat versprochen, dass wir da mehr zu essen bekommen, aber das wurde auch nicht gehalten.« Historiker schätzen, dass bis zu 50.000 deutsche Kriegsgefangene in Frankreich Minen räumen mussten.

Heinz Parthum ist der älteste Reutlinger. Er hat sich mit 18 freiwillig als Soldat im Zweiten Weltkrieg gemeldet und war schließ
Heinz Parthum ist der älteste Reutlinger. Er hat sich mit 18 freiwillig als Soldat im Zweiten Weltkrieg gemeldet und war schließlich in französischer Kriegsgefangenschaft. Foto: Kathrin Kammerer
Heinz Parthum ist der älteste Reutlinger. Er hat sich mit 18 freiwillig als Soldat im Zweiten Weltkrieg gemeldet und war schließlich in französischer Kriegsgefangenschaft.
Foto: Kathrin Kammerer

»Wir bekamen Stecken mit einer Spitze. Mit denen musste man stochern«, erinnert sich Parthum. »Oder manchmal auch Metalldetektoren, mit denen wir schrittweise das Feld abgesucht haben. Wenn es gepiepst hat, haben wir die Mine ausgebuddelt. Mit Spaten und Hacke. Und wenn man einen Haufen zusammen hatte, hat man den gesprengt.« Eines Tages kam es zu einem Unfall. »Mein Nachbar ist in die Luft geflogen. Der hat sein Bein verloren. Ich wurde so geblendet, dass ich blind war. Erst nach zwei Wochen im Lazarett konnte ich wieder sehen.« Ja - das sei eine wirklich schlimme Zeit gewesen. »Aber währenddessen haben wir gar nicht so sehr dran gedacht. Das war der Selbsterhaltungstrieb.«

»Mein Nachbar ist in die Luft geflogen. Der hat sein Bein verloren«

Als der Krieg beendet war, wurde Parthum und seinen Kameraden ein Angebot gemacht: Wer sich zur Arbeit in Frankreich meldet, kommt frei. Parthum nahm an, fand eine Stelle als Weber. Ein Zufall führte ihn schließlich nach Reutlingen. »In Gefangenschaft war ein Mann, dem die Weberei Burkhardt in Pfullingen gehörte. Er hat zu mir gesagt: Wenn wir frei sind, kommst du zu mir.« Als Parthum realisierte, dass er - weil er Deutscher ist - in Frankreich keine Chance hat, Web-Meister zu werden, wandte er sich also an seinen alten Kameraden aus der Gefangenschaft. »Und der hat sein Versprechen gehalten.« (GEA)

Die letzten Zeitzeugen

Der Zweite Weltkrieg steht für das Menschheitsverbrechen des Holocaust, für massenhafte Vertreibung, Trauer, Leid, Tod, traumatisierte Menschen, zerstörte Landstriche und Städte. Rund 60 Millionen Menschen starben zwischen 1939 und 1945. Die Aufarbeitung dieser Zeit ist genauso wichtig wie sicherzustellen, dass solche Verbrechen nie wieder passieren. Zur Erinnerungskultur gehört aber auch, den Menschen zuzuhören, die damals gelebt haben. Und dazu bleibt nicht mehr viel Zeit. Der GEA lässt die letzten noch lebenden Zeitzeugen in der Region in einer losen Artikelserie zu Wort kommen.

Viele von ihnen haben sich erst im hohen Alter dazu entschlossen, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Sie waren in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädel, wuchsen als Kinder von Nazi-Gegnern wie auch glühenden Partei-Mitgliedern auf. Sie haben Bombardierungen, Vertreibung und Zwangsarbeit erlebt, waren Soldat und sogar in Kriegsgefangenschaft. Ihre Geschichten sollen exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zeigen, wie das Leben in Deutschland damals ausgesehen hat. (kk)