REUTLINGEN. Eine Tür knallt zu. Der 16-Jährige aus Syrien fährt zusammen. Mit dem knallenden Geräusch kommt überfallartig die Erinnerung zurück: die Bomben, die Zerstörung, der Krieg im Heimatland. Ein anderer Flüchtling, auch erst 16 Jahre alt, aus Afrika, sitzt in einem Reutlinger Fitness-Studio auf dem Rudertrainer. Regelmäßig zieht er an den Griffen, es entsteht ein Geräusch, das ihn an Meeresrauschen erinnert – und plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Flashback: Die Flucht übers Meer, die Lebensgefahr, die Angst, die schrecklichen Erlebnisse. »Alle unsere Jugendlichen, die wir betreuen, sind auf irgendeine Art und Weise traumatisiert«, sagt Dr. Susanne Leitner, Leiterin des Projekts »Hilfen für unbegleitete junge Flüchtlinge«.
»Wir haben viel mit Behörden zu tun«
Es ist das Frühjahr 2015. Viele Menschen drängen nach Europa, suchen Hilfe in ihrer Not. Sie kommen aus Syrien, aus Afghanistan, vom Balkan. Aber auch aus Afrika fliehen viele Menschen über das Mittelmeer Richtung Italien. Unter den Flüchtlingen sind auch viele Jugendliche, manche erst 15 oder 16 Jahre alt. Das Regierungspräsidium weist sie den einzelnen Landkreisen zu.
So gelangten die ersten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auch nach Reutlingen. Anfangs wurden die Jugendlichen im Kolpinghaus untergebracht. Doch die soziale Einrichtung konnte die Anforderungen nicht alleine schultern. Das Jugendamt suchte nach weiteren Trägern und fand auch Unterstützung beim Reutlinger Verein Hilfe zur Selbsthilfe. Dort wurde schnell der neue Bereich »Hilfen für unbegleitete junge Flüchtlinge« eingerichtet, praktisch aus dem Nichts, der Realität und politischen Lage geschuldet. Zu Beginn war es nur eine Handvoll junger Geflüchteter. Inzwischen betreut der Verein rund 45 Jugendliche aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, aber auch aus afrikanischen Ländern wie Somalia oder Gambia.
Susanne Leitner, ausgebildete Sonderpädagogin, erklärt ihre Arbeit: »Wir haben viel mit Behörden zu tun.« Zum Beispiel müssten sich die Jugendlichen zum Asylverfahren anmelden. Es geht aber auch um die Gesundheitsversorgung, »wir begleiten sie dann zu den Ärzten«. Mit dem Jugendamt wird die Hilfeplanung koordiniert, auch Freizeitangebote spielen eine große Rolle.
Wo leben die Jugendlichen in Reutlingen? »Es gibt drei Settings«, berichtet Susanne Leitner. Einige der unbegleiteten jungen Flüchtlinge sind noch im Kolpinghaus untergebracht. Außerdem gibt es acht Plätze in einer Wohngruppe. 35 weitere Jugendliche, sie alle sind im Alter zwischen 16 und 21 Jahren, leben in 21 betreuten Jugendwohnungen.
»Sie wurden Opfer und Zeugen von massiver Gewalt«
Schnell merkten Susanne Leitner und ihr Team, dass viele Jugendliche traumatische Belastungssymptome zeigen. Sie haben Angstzustände, Alpträume oder körperliche Schmerzen. Kein Wunder, denn die jungen Menschen wurden in ihrem Heimatland oder auf der Flucht »Opfer und Zeugen von massiver Gewalt, von sexuellen Übergriffen, von Folter, Tod und Demütigung«. Zudem sorgten sie sich um ihre Familien, die zurückbleiben mussten, berichtet Leitner. Auch die Unsicherheit, ob sie in Deutschland bleiben dürfen, belastet die Jugendlichen sehr.
Doch für die traumatisierten Jugendlichen gibt es derzeit nicht genügend Therapieplätze. Die Wartezeiten sind extrem lang. Dazu kommt, dass die meisten mit ihrer Traumatisierung und deren psychischen Folgen nur schwer umgehen können. »Sie denken: ›Mein Kopf ist kaputt‹.« Ihr Selbstbildnis sei gestört, sagt Leitner. Sie fühlten sich nicht mehr leistungsfähig, »wissen nicht, was mit ihnen eigentlich los ist«.
Um den jungen traumatisierten Flüchtlingen besser helfen zu können, baut der Verein Hilfe zur Selbsthilfe nun eine Traumafachberatungsstelle auf. Sie stellt ein niederschwelliges Angebot dar, um den jungen Menschen den Einstieg in eine therapeutische Betreuung zu erleichtern. »Wir wollen die Jugendlichen aufklären, woher ihre Probleme kommen. Wir möchten ihnen die Angst nehmen, sie entschämen«, erklärt Susanne Leitner. Die jungen Flüchtlinge sollen erkennen, dass »es jedem so gehen kann und dass man dagegen auch etwas tun kann«. Sie sollen wieder »Herr im eigenen Haus, im eigenen Körper werden«, sich stabilisieren und ihre Ressourcen aktivieren. »Unsere Angebote ersetzen aber keine Therapie«, betont Susanne Leitner.
»Wir möchten ihnen die Angst nehmen«
Finanziert wird die Traumafachberatungsstelle für unbegleitete junge Flüchtlinge aus Mitteln der Karola-Bloch-Stiftung. Es ist eine Anschubfinanzierung. Leitner und ihr Team können deshalb noch weitere finanzielle Unterstützung sehr gut gebrauchen. »Wir möchten die Fachberatungsstelle mit Materialien besser ausstatten«, erklärt sie. Jede Spende hilft weiter. Deshalb freut sie sich auch auf die Benefiz-Kriminacht am 8. Dezember im Oertel+Spörer-Gebäude, deren Erlös der Traumafachberatungsstelle zugutekommt. (GEA)