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Aktuell Leserstammtisch

Engagierte Diskussion zu Mobilität und Verkehrswende

In bunter Runde diskutierten GEA-Leser und -Redakteure über Mobilität. Plädoyer für gute Gesamtkonzepte

GEA-Lokalchef Roland Hauser und Redakteurin Andrea Glitz stimmten die Stammtischrunde auf das Thema ein. Foto: Pieth
GEA-Lokalchef Roland Hauser und Redakteurin Andrea Glitz stimmten die Stammtischrunde auf das Thema ein.
Foto: Pieth

REUTLINGEN. Leidenschaftliche Autofahrer, überzeugte Radler, regelmäßige Bahnfahrer, pragmatische Alle-Verkehrsmittel-Nutzer: Beim GEA-Leserstammtisch diskutierte eine bunte Runde fast drei Stunden lang engagiert und kenntnisreich mit der GEA-Redaktion über das Thema »Stillstand oder Wende – Mobilität in Reutlingen und der Region«. Sehr unterschiedliche Interessen und Meinungen stießen in der von GEA-Lokalchef Roland Hauser moderierten Debatte aufeinander. Doch während es draußen in der freien Wildbahn oft an gegenseitiger Rücksichtnahme fehlt, hörten die rund 20 »Stammtischler« einander respektvoll zu.

Die Verkehrswende werde einen »Verteilungskampf« vor allem in den Städten mit sich bringen, hatte Lokalredakteurin Andrea Glitz in ihrer Einführung ins Thema gesagt. Der werde vor allem zulasten der Autos gehen. Denn der Verkehrsraum ist endlich, gleichzeitig sollen Umwelt und Lebensqualität nicht weiter durch Emissionen leiden. Wie also kriegt man sie hin, die zukunftsträchtigen Verkehrskonzepte für die Region? Wie schafft man einen guten Mix aus Autoverkehr und ÖPNV, Rad- und Fußwegen?

Reutlingens Buskonzept. Der Ansatz ist gut, aber der Teufel steckt im Detail. Am neuen Reutlinger Stadtbusnetz hatte die Leserstammtisch-Runde einiges zu kritisieren. Nicht nur an der Linienführung, wo an etlichen Stellen Nachjustieren nötig sei – auch die Naldo-App sei nicht so nützlich wie erhofft (»drei Haltestellen, die sich Hauptbahnhof nennen«). Durch den stärkeren Busverkehr sei das Staupotenzial gewachsen. Allerdings war sich die Runde einig, dass man dem neuen Stadtbusnetz eine Chance geben muss – vielleicht auch eine zweite oder dritte. »Solche Dinge brauchen Zeit«, hieß es. Zeit auch, um die Schwachstellen auszumerzen. Und: Umsteigen werden die Leute nur, wenn sie einen Vorteil davon haben – weshalb die Verkehrsplaner in Vorleistung gehen und zum Beispiel attraktive Zehn-Minuten-Takte anbieten müssten. Park-and-ride-Anschlüsse für die Pendler sollte es an strategisch wichtigen Punkten geben. Und bezahlbar müsse das Ganze auch für finanziell Schwache sein.

GEA-Lokalchef Roland Hauser und Redakteurin  Andrea Glitz  stimmten die Stammtischrunde auf das Thema ein (links). Danach ging e
Beim GEA-Leserstammtisch ging es zur Sache: Über das neue Reutlinger Stadtbusnetz wurde ebenso debattiert wie über den fehlenden S-Bahn-Anschluss an Stuttgart oder die Aggressivität im Straßenverkehr. FOTOS: PIETH
Beim GEA-Leserstammtisch ging es zur Sache: Über das neue Reutlinger Stadtbusnetz wurde ebenso debattiert wie über den fehlenden S-Bahn-Anschluss an Stuttgart oder die Aggressivität im Straßenverkehr. FOTOS: PIETH

Blick über den Zaun. Die GEA-Stammtischler sind nicht nur in der Region mobil. Und viele verwiesen auf tolle Verkehrskonzepte in anderen Großstädten, von denen man hier noch Lichtjahre entfernt sei. Vor allem beim Radverkehr sei man im Ausland viel weiter – nicht zuletzt deshalb, weil Radfahrer, Autos und Fußgänger in der Regel eigene Wege haben und sich nicht den Platz streitig machen. »Mischmasch« funktioniere nicht. U-Bahnen, S-Bahnen und Straßenbahnen mit enger Taktung und zuverlässigem Erscheinen sorgten zum Beispiel in München dafür, dass man bis weit ins Umland hinaus gut mit dem ÖPNV bedient ist.

Anbindung an Stuttgart. Was hat das kleine Schorndorf, was Reutlingen nicht hat? Einen S-Bahn-Anschluss. Es gibt eine Menge Pendler in den Stuttgarter Raum – aber die haben nichts zu lachen. Die B 27 ist chronisch verstopft, die schnellen Bahnverbindungen sind vor allem zu den Stoßzeiten so sehr gefragt, dass man Glück hat, wenn man überhaupt in den Zug hineinkommt. Wieso die Betreiber es nicht schaffen, ein paar mehr Waggons zu besorgen und dranzuhängen, war vielen in der Runde ein Rätsel. Ebenso, warum es nicht längst eine S-Bahn-Anbindung nach Stuttgart gibt. Das, hieß es, wäre wirklich ein Meilenstein in Sachen Verkehrspolitik, weshalb hiesige Kommunalpolitiker sich mit Vehemenz dafür einsetzen sollten – zumal Kaufkraft, die von den Pendlern im Raum Stuttgart erarbeitet wird, wieder in die Region zurückfließt. Auch die Metropole müsste ja ein Interesse daran haben, dass weniger Individualverkehr hineinrollt.

Hitzige Diskussionen beim GEA-Leserstammtisch. Foto: Frank Pieth
Hitzige Diskussionen beim GEA-Leserstammtisch.
Foto: Frank Pieth

Aggressionen. Anscheinend kommt vielen Zeitgenossen auf der Straße die gute Kinderstube abhanden – vielleicht auch, weil die »Verkehrswende« zum guten Teil ideologisch behaftet ist? Man erfuhr am Stammtisch von Radlern, die in der 30er-Zone die Autos überholen, oder von Drahtesel-Besitzern, die Fußgänger beinahe über den Haufen fahren und Autos schon mal gegen den Kotflügel treten. Die Radfahrer in der Runde schilderten ihrerseits, wie oft sie sich selbst auf Fahrradstraßen unsicher fühlen, weil sie von Autofahrern aggressiv an den Rand gedrängt oder schlicht übersehen werden. Und dann gibt es da noch Umweltaktivisten, die SUV-Fahrer anpöbeln. Dringender Wunsch des Leserstammtischs: Alle sollten sich am Riemen reißen und mehr Rücksicht auf die anderen nehmen.

Umweltnutzen. Offenbar, so eine Anmerkung, sei der Leidensdruck bei über Staus klagenden Autofahrern noch nicht groß genug – sonst gäbe es ja vielleicht mehr Fahrgemeinschaften … Doch es gehe beim Thema Verkehrswende schließlich nicht darum, Autofahrer zu piesacken. Es gehe vor allem auch um den Umweltschutz: um das Klima, um saubere Luft und die Lebensqualität in den Städten. Es gebe jetzt schon zu viele Autos, und es würden immer mehr. Autos versursachten aber nun mal Lärm und Dreck.

Auto-Fraktion. Etliche Teilnehmer der Runde zeigten sich sehr skeptisch, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs so stark abnehmen wird, wie die Verkehrsplaner sich das wünschen. Auf dem Land schon gar nicht. In autofreien Städten werde der Einzelhandel leiden. Zwar räumten auch die überzeugten Autofahrer ein, dass einfach zu viele Fahrzeuge unterwegs sind. Doch am Pranger wollten die Autofahrer auch nicht stehen. Schließlich sei Baden-Württemberg ein Autoland, ein großer Teil des Wohlstands werde in der Autoindustrie erwirtschaftet. Hohe Arbeitsplatzverluste könne sich niemand wünschen. Und: Dass in einer Großstadt viel Verkehr fließe, sei normal – deshalb brauche man breite Hauptverkehrsstraßen, die viele Fahrzeuge aufnehmen und sie zügig weiterbefördern. Hauptstraßen zu verengen verursache nur Ausweichverkehr in anderen Gebieten. Und dann dort wieder eine Maßnahme anzuhängen, die zu neuen Schleichwegen führt, sei kein Verkehrskonzept, sondern Flickschusterei.

Der GEA-Leserstammtisch. Foto: Gea
Der GEA-Leserstammtisch.
Foto: Gea

Fahrradstraßen. Nein, die Reutlinger Fahrradstraßen kommen bei den meisten Teilnehmern des Leserstammtischs nicht gut weg. Vor allem nicht die Charlottenstraße. Ein »Schildbürgerstreich«, der überdies die Fußgänger nicht berücksichtigt? Eine gute Idee, schlecht umgesetzt? Oder am falschen Ort umgesetzt? Kaum einer in der Runde hat das Gefühl, dass mit der Charlottenstraße ein großer Wurf gelungen ist. Radler und Autofahrer hätten dort kein gedeihliches Miteinander. Wobei Miteinander die Sache auch nicht genau trifft: Auf Fahrradstraßen haben Radler Vorrang, Autos müssen sich unterordnen und hinterherfahren – was längst nicht jedem Autofahrer klar ist.

Mut zum Experiment. Wenn die Frage lautet, wie man schnell und sicher ans Ziel kommt, gibt es darauf situationsbedingt unterschiedliche Antworten. Manchmal ist es das Auto, manchmal das Rad, und manchmal sind es die eigenen zwei Beine. Manche am Stammtisch vermissen das eigene Heilixblechle gar nicht, weil sie gut mit Rad, ÖPNV und Carsharing durch den Alltag kommen. Aber das, so wurde mehrfach gekontert, hänge eben auch vom Wohn- oder Arbeitsort ab und von der Lebenssituation. Und davon, ob man selbst als passionierter Bahnfahrer zum Beispiel für viele Einkäufe mit dem Auto aus der Stadt auf die grüne Wiese fahren muss, weil es in der Reutlinger Innenstadt gar keinen Vollsortiment-Supermarkt mehr gibt. Viele in der Runde plädierten indes dafür, aus dem Thema Verkehrswende den emotionalen Dampf herauszunehmen und pragmatisch die Möglichkeiten zu prüfen. Der Umwelt helfe schließlich jeder Weg, der emissionsfrei zurückgelegt wird.

NÄCHSTER STAMMTISCH

Beim nächsten GEA-Stammtisch im Februar geht es um das Thema Sport und Sportstätten in Reutlingen und der Region. Der genaue Termin wird rechtzeitig vorher im GEA bekannt gegeben.

Gesamtkonzept. Keine Halbheiten, sondern durchdachte Gesamtkonzepte wünschte sich die Mehrheit der Runde. Speziell in der Stadt Reutlingen kann die längst nicht jeder erkennen. Ein Radwegenetz, das seinen Namen verdient, existiert allenfalls auf dem Papier. Das Wort »Aktionismus« fiel häufig, vor allem mit Blick auf die beiden Reutlinger Fahrradstraßen – es sei doch nicht sinnvoll, einfach drauflos zu bauen, nur weil es gerade Fördermittel gibt. Oft werde zu sehr unter dem lokalen Gesichtspunkt geplant und die regionale Anbindung vernachlässigt.

Fazit. »Wir brauchen alle Verkehrsmittel« – so banal der Satz klingt, so wahr sei er, befand die Stammtischrunde. Wenn in einer mobilen Gesellschaft immer mehr auf den Straßen los ist, dann brauche es zukunftsträchtige Planungen, die die Gesamtzusammenhänge im Visier haben: Nicht »Schwachpunktekonzepte«, die an einzelnen Punkten herumdoktern, ohne im Großen etwas zu verbessern. Statt den Bürgern ein Konzept »aufzunötigen«, wäre es durchaus angeraten, vorher gründlich die Bedürfnisse abzufragen. Denn nur ein Angebot, das den Bedarf bedient, werde erfolgreich sein – andernfalls würden unter Umständen nur unnötig Steuern verbraten. Und schließlich fehle nur noch eines: Die Bereitschaft zu schauen, für welche Wege es gute Alternativen zum Auto gibt. (GEA)