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»Eine aufregende und prägende Zeit« - Wie Menschen aus der Region den Mauerfall erlebten

Früher im Osten, heute im Westen: Menschen aus der Region schildern ihre Erlebnisse rund um den Mauerfall

Katja Büchel war sieben Jahre alt, als die Mauer fiel. Den 9. November hat sie als »ganz normalen Donnerstag« in Erinnerung. Fot
Katja Büchel war sieben Jahre alt, als die Mauer fiel. Den 9. November hat sie als »ganz normalen Donnerstag« in Erinnerung. Foto: Niethammer
Katja Büchel war sieben Jahre alt, als die Mauer fiel. Den 9. November hat sie als »ganz normalen Donnerstag« in Erinnerung. Foto: Niethammer

REUTLINGEN. Die Westler hingen gebannt am Fernseher – oder machten sich zum Teil auch auf nach Berlin, wo sich am Tag des Mauerfalls am 9. November und danach unglaubliche Szenen abspielten. Doch für die Menschen in der damaligen DDR muss dieses historische Ereignis doch noch viel aufwühlender gewesen sein, oder? Wir haben Menschen gefragt, die früher im Osten lebten und heute hier in der Region heimisch sind.

 

Katja Büchel (37) wurde in Leipzig geboren und ist dort auch aufgewachsen. Die Diplom-Ingenieurin leitet seit zwei Jahren das Gebäudemanagement der Stadt Reutlingen. »1989 war ich sieben Jahre alt und war gerade eingeschult worden. Der 9. November war ein ganz normaler Donnerstag für mich. Wir haben es zu Hause über die Tagesschau am Abend erfahren. Im ersten Moment war da ein ungläubiges Staunen und etwas Unsicherheit bei meinen Eltern. Die Realisierung, was das bedeutete, kam gefühlt erst in den Tagen danach. Für mich ging irgendwie alles ganz normal weiter. Ich gebe zu, dass ich in dem Alter noch nichts von den Einschränkungen verstanden habe, die die Menschen in der DDR hatten. Ich empfand damals selbst eine Reise mit dem Wartburg von Leipzig in die Dübener Heide als Weltreise. Als Kind ist die Welt um einen herum gefühlt viel größer, und mit den Freunden um die Ecke hat man doch alles, was man braucht.«

 

 

Jacqueline Lohde (54), Erste Bürgermeisterin der Stadt Metzingen, wurde in (Ost-)Berlin geboren. Die Wochen und Tage rund um den Mauerfall erlebte sie als 24-jährige Architektur-Studentin in Dresden: »Eine aufregende, emotional sehr intensive und prägende Zeit.« Sie war bei den großen Demonstrationen mit dabei – wie viele andere, die Veränderung wollten. »Eine historisch einmalige Situation«, sagt sie. »Die größte Leistung aller Beteiligten« sei es damals gewesen, dass es nicht zu Gewalt kam in der angespannten Stimmung mit all der massiven Polizeipräsenz. Jacqueline Lohde lenkt den Blick aber auch auf das, was nach der ersten Euphorie kam: »Als die Mauer weg war, war für die Menschen in der DDR auch ihre ganze bisherige Lebensgrundlage weg.« Die Struktur des Staates, das Gesellschaftssystem, das unmittelbare Lebensumfeld – alles neu, alles anders. »Wer das nicht erlebt hat, kann das nicht nachvollziehen.« Sie hat deshalb Verständnis für jene, die nur schwer oder gar nicht mit den Umbrüchen und der Unsicherheit zurechtkamen. Ihr selbst fiel es leicht, die Veränderungen anzunehmen, ihren Weg zu gehen. Doch als sie vor rund fünf Jahren in Metzingen ihre erste Stelle im Westen antrat, merkte sie, wie groß die Unterschiede noch sind – zum Beispiel in Sachen Arbeitsmarkt. Hier sieht sie Handlungsbedarf: »Die Politik muss was tun im Osten für gut bezahlte Arbeitsplätze.«

 

 

Anke Leuschke, die heute mit ihrer Familie in Hohenstein lebt, war damals 18 Jahre alt und hatte gerade ihre Ausbildung zur Laborantin abgeschlossen. »Zum Mauerfall war ich zu Hause in Dresden und dann auf Reisen, aber nicht in Richtung Westen«, erinnert sie sich. »Mein Mann, damals Grundwehrdienst bei der NVA-Marine leistend, wurde in der Nacht vom 9. November im Stralsunder Militärhospital am Blinddarm operiert. Samstag früh machte ich mich auf den Weg in Richtung Norden. Der Zug nach Stralsund war brechend voll. Im Dresdner Hauptbahnhof hatte ich Glück, dass ich überhaupt noch mit kam. In Berlin-Lichtenberg änderte sich die Situation – ich war allein und wurde ziemlich kritisch beäugt, als ich keine Anstalten machte auszusteigen.« Drei Tage später besorgte sie sich ein Visum, am Wochenende startete ihr erster Trip nach West-Berlin: »Es war irgendwie surreal, ein Trip in eine andere Welt. Auf der anderen Seite war alles entspannt und freundlich – komisch normal irgendwie. Wir bummelten durch die Stadt, über den Kudamm und schauten uns die bunten Schaufenster an. Trotzdem, wenn ich die Bilder vom Mauerfall sehe, stehen mir immer noch die Tränen in den Augen.«

 

 

Dagmar und Alfred Brodowski leben heute in Eningen. Als ihr Sohn in Apolda in Thüringen in die Schule kam, fiel die Entscheidung. »Ich sah meine eigene Schulzeit wie einen Film ablaufen«, erzählt Alfred Brodowski. Das wollte er Arne ersparen, vor allem, nachdem die Indoktrination in der DDR noch zugenommen hatte. Rund sieben Jahre vor dem Mauerfall stellte das Ehepaar den Antrag auf Ausreise in die BRD. Nur elf Monate später hatten sie die Genehmigung in der Tasche. »Ohne Schikane«, wie Brodowski erklärt. Über viele Stationen sind sie in Reutlingen gelandet und wohnen seit 1991 in Eningen.

 

Der 9. November 1989? »Ich saß mit offenem Mund, mal nach Luft ringend, mal mit Gänsehaut vor dem Fernseher«, erzählt Dagmar Brodowski. Ihr Mann, heute 69, hatte Spätschicht beim Bosch, als immer mehr Kollegen bei ihm vorbeikamen und vom Fall der Mauer berichteten. Da alle dasselbe erzählten, musste das Undenkbare wohl stimmen. Die ganze Nacht haben die beiden vor dem Fernseher verbracht. Und plötzlich wurde die Welt weiter. »Es war, wie wenn ein Knoten geplatzt wäre«, sagt Alfred Brodowski. Von heute auf morgen war ein Besuch der Eltern möglich. »Jetzt können wir wieder dahin, wo wir herkommen« war der nächste Gedanke. Die Isolation, die sie in der neuen Heimat spürten, war aufgebrochen. Sekt haben sie an diesem Abend keinen getrunken, obwohl es viel zu feiern gab. »Wir haben einfach nur gestaunt.« Keinen einzigen Gedanken haben die beiden übrigens daran verschwendet, ob es nicht besser gewesen wäre, Anfang der Achtziger keinen Ausreiseantrag zu stellen und in der DDR zu bleiben. »Wir haben alles richtig gemacht«, sagen sie auch noch heute.

Für

Joachim Pfützenreuter hatte sich der Fall der Mauer in den Wochen zuvor bereits abgezeichnet. »Da die Staatsmacht nicht mit Waffengewalt gegen die Massendemonstrationen einschritt, war klar, dass es so nicht weitergehen würde«, erinnert sich der 69-Jährige an die Zeit kurz vor dem Mauerfall. Das historische Ereignis hat der aus Delitzsch bei Leipzig stammende und heute in Mössingen lebende Pfützenreuter am Fernseher miterlebt.

 

An Jahrestagen wie dem 9. November kommen die Bilder der Wende und die von seiner Leidenszeit in der DDR wieder hoch: Als 22-Jähriger wurde er zusammen mit seiner Frau auf Hochzeitsreise in der Tschechoslowakei verhaftet und für anderthalb Jahre ins Gefängnis gesteckt. Offenbar war der Stasi klar, dass sich das junge Paar in der Tschechoslowakei über eine Flucht informieren wollte. Wenig später, 1975, kam für das Ehepaar beim zweiten Anlauf die erlösende Nachricht, dass sie von der Bundesrepublik freigekauft würden: »Ein Koffer mit 98 780 Mark wechselte den Besitzer.« Pfützenreuter studierte in Hannover Sozialpädagogik, kam über die Gustav-Werner-Stiftung nach Reutlingen, wo er für die Firma Bosch als betrieblicher Sozialarbeiter tätig ist. Der Zeitzeuge (siehe Infobox) setzt sich dafür ein, dass die Geschehnisse von damals nicht in Vergessenheit geraten. (GEA)

 

ZEITZEUGEN BERICHTEN

Über das »Leben im anderen Deutschland« berichten Zeitzeugen, die in der Region leben (darunter Joachim Pfützenreuter), am heutigen Samstag, 9. November, von 11 bis 13 Uhr in der Stadtbibliothek Reutlingen. (GEA)