REUTLINGEN-BETZINGEN. Der Weg zu DeeJay Ossi führt durch den Dschungel. Mitten in Betzingen. Hinter Palmen, Bambus, Bananenstauden und jahreszeitlich changierenden Blühpflanzen weisen »Surfers Paradise«- und »Beach Bar«-Schilder den Weg in die »Partylounge Ralf & Carmen«. Im Pavillon steht Ralf »Ossi« Oswald mit einem Kopfhörer am Ohr hinter Konsolen, Laptops und Controller, umrahmt von Handy-Kameras, Beamer, Disco-Kugeln in allen Größen und Schnickschnack bis hin zum Mini-Aufzieh-Plastik-DJ, der auf Knopfdruck lärmend und blinkend über den Fliesenboden wackelt.
Ralf Oswald ist im April 1954 in West-Berlin geboren. Darauf legt er Wert. Der Künstlername leitet sich keineswegs von einer ostdeutschen Herkunft, sondern vom Nachnamen ab. Als eine GEA-Reporterin ihn 1975 in einem Bericht übers krisengeschüttelte Jugendhaus Orschel-Hagen unbedingt namentlich nennen wollte, hat er spontan auf den Spitznamen seines Bruders als DJ-Alias zurückgegriffen. Denn er ging einem Beruf nach, für den Seriosität essentiell ist. Heute setzt er dem »Ossi« als Verballhornung einen »DeeJay« voran: »Ein DJ legt auf, DeeJays wollen Spaß haben«, erklärt der 71-Jährige. Statt als Disc-Jockey sehe er sich generell eher als MC - Master of Ceremony -, der Musik »nicht nur abspielt, sondern interpretiert und eine Show daraus macht«.
»Es geht darum, abzuschalten und einen Abend lang Spaß zu haben«
Das tut Ossi seit 50 Jahren. Aufs hobbymäßige Plattenauflegen im Jugendhaus folgten Engagements unter anderem im Willys Inn, Atrium, Billy Bob's und Almrausch. So hat er das Reutlinger Nachtleben geprägt. Und schickt bis heute über das Tübinger freie Radio »Wüste Welle« oder per Live-Stream vom Pavillon in seinem Garten aus Party-Vibes in alle Welt.
Bereits als Ralf fünf Jahre alt war, zog die Familie von West-Berlin nach Reutlingen. Dort habe er die Menschen nicht verstanden »und die mich nicht, aber ich hatte trotzdem eine freche Schnauze« - und der Vater hat als Steuerberater eine große Kanzlei übernommen. Auch wenn Ralf später hauptberuflich in dessen Fußstapfen treten sollte, weithin bekannt ist der Mann, dem schon als 14-Jähriger seelisch bedingt das Haupthaar ausgefallen ist, weil er jahrzehntelang bestimmte, zu welchem Sound die Jugend in angesagten Diskotheken und auf Festen mitwippt oder tanzt.
Ob die Hits dabei vom Band, von einer Single oder Maxi, von CDs oder aus seiner 482 Dateien umfassenden digitalisierten Schallplattensammlung - 1.372 Titel davon allein aus den 1980er-Jahren - kommen, spielt keine Rolle. Ebenso wenig wie die Musikrichtung. Schlager oder Freestyle - »es geht darum, einfach mal abzuschalten und einen Abend lang Spaß zu haben«.
»Mein Vorteil: Das war der Übergang von der Beat- zur Disco-Musik«
Als Teenager riss er im Keller seines Elternhauses im Ringelbach die Miniatur-Eisenbahn raus und baute stattdessen einen Dual-Plattenspieler mit automatischem Plattenwechsler ein. Später fuhr er mit dem Mofa nach Orschel-Hagen raus, wo es in der katholischen Kirche nachmittags eine gut besuchte Jugenddisco gab. Bald zog es ihn ins benachbarte Jugendhaus. »Im dortigen Café mit großer Bar versuchte irgendjemand, Musik zu machen.« Als er sah, dass dazu ein Keller gehörte, baute er den mit Freunden zum Partyraum aus. »Mein Vorteil: Dass das damals der Übergang von der Beat- zur Disco-Musik war.«
So legte er bald regelmäßig auf. Gary Glitter, Bay City Rollers, Slade - »was bin ich rumgesprungen in den Plattenläden, um die neuesten Scheiben anzuhören!« Dabei habe »so ein kleines Ding damals fünf Mark gekostet«. Im »Oldtimer« im Laisen lernte er den Taxi-Fahrer Willy Redweik kennen. »Getanzt haben wir dort nie, nur mit dem DJ gesoffen.« Jim Beam mit Cola. »Anfang 1979 kam dann der berühmte Samstag, wo der füllige DJ Willy wirklich mal zu viel getrunken hat und umgekippt ist«, erzählt der Mann, dessen Frau im Verlauf des Gesprächs immer wieder die Hände vors Gesicht schlägt und lachend murmelt, »ach diese Geschichte wieder ...«
»Wenn man oben am DJ-Pult steht, spielt das Aussehen keine Rolle mehr«
Ossi ist über ihn drüber gestiegen und hat »halt mal geschwind übernommen« - das führte zum ersten offiziellen Einsatz am 15. Dezember 1979 in Georg Preissacks aus dem Go-In in der Gartenstraße 49 entstandenen Willys Inn. Vor 46 Jahren war dort »Willy der Star und ich nur Aushilfe«, doch »die Bude war gerammelt voll«. Auch als der Initial des Clubs neben dem Bistro am Kino Planie zu Billys Inn geändert wurde, erlebte der junge Nerd mit den auffälligen roten Stoppeln und Stirnglatze: »Wenn man oben am DJ-Pult oder auf der Bühne steht, spielt das Aussehen keine Rolle mehr.«
1985 sorgten Hans und Gustav Kalbfell mit dem neuartigen »Atrium - das gastronomische Erlebnis« in der Emil-Adolff-Straße auf 800 Quadratmetern für Furore. Ein oder zwei Wochen nach der Eröffnung schaute auch Ossi, der sich just mit Preissack überworfen hatte, dort vorbei. »Das muss man sich mal vorstellen, das hat um 20 Uhr aufgemacht und da warteten die Leute schon bis zur Straße vor.« Als Gustav Kalbfell den damals 31-Jährigen sah, zog er ihn am Schlafittchen aus der Schlange: »Bist du der Ossi? Ich muss mit dir reden!« So wurde er MC am erlebnisgastronomisch inszenierten Dorfplatz zwischen »Reblaus«, »Zapfhannes« und »Speedy Inn«: »Wahnsinn, was da an Burgern rausgegangen ist!«
»Anfangs hieß es, Musik erst ab 22 Uhr und bitte leise«
»Anfangs hieß es, Musik erst ab 22 Uhr und bitte leise«, erzählt er. Die Berliner Schnauze und das »Schwätzen« festigten seinen Ruf unter schicken weißen Boxen und weißen Palmen neben der DJ-Kanzel - da man damals noch rauchen durfte, waren die aber bald eher grau. Das Konzept wandelte sich zum »Freizeittreff rundum« - an sieben Tagen die Woche mit jeweils 1.500 Gästen im Schnitt. »Ich hab's als Erster geschafft, dass auch Stuttgarter nach Reutlingen kamen«, sagt er, während seine Frau lachend ihr Gesicht in den Händen vergräbt. Zum Beweis zeigt er Videos und Fotos, unter anderem von einem Interview mit einem Spieler des VfB.
»Das war der letzte Laden, wo wir auf Firmenkosten Platten einkaufen durften.« Der Nachteil am Vinyl: »Man muss kiloweise Kisten rein- und rausschleppen.« Der erfinderische Ossi rollte seine Schätze bald mit der Sackkarre zum DJ-Pult. Auch wenn ihn Kollegen dafür zunächst auslachten, der Wechsel zur CD fiel da nicht schwer: »So hast du halt plötzlich die Auswahl zwischen 2.000 Titeln statt 200« - von ABBA über Gloria Gaynor zu Righeiras »Vamos A La Playa«. Wie schon zuvor, war er als DJ auch dort von jungen Mädchen umlagert. Mehr gefiel ihm aber die Haptik des Mixens. »Die Kunst besteht darin, die Übergänge zu gestalten«, erklärt er.
Zehn Jahre später ging es nach einem erneuten Imagewechsel mit der Disco, die in Reutlingen als erste Lochkarten statt Bargeld für den Essens- und Getränkekonsum einführte, bergab. Für Carmen war das ein Glück: Ins Atrium hatten die Eltern die damals 17-jährige Bempflingerin eh nicht gehen lassen. Aber Michael Mylonas' uriges Billy Bob's in Bahnhofsnähe war okay. Dort fiel ihr 1997 erstmals Stamm-DJ Ossi auf. Und sie ihm. Bei einem Lollies-Konzert auf der dortigen Terrasse hat er der 25 Jahre jüngeren Frau später einen Heiratsantrag gemacht. Ihr zuliebe will er nun kürzer treten - und legt aktuell nur noch ab und zu im »Almrausch« und im Pfullinger Festfabrikle auf.
Schon seit 2005 beschränkt er sich auf einzelne Partys: von Gotha bis Tuttlingen, vom »Zill« in Bad Urach zum »Noahs« in Balingen. In der Fasnetszeit sorgt er auf Vereinsveranstaltungen für Stimmung, seit 21 Jahren etwa bei den Degerschlachter Eulen, nimmt mit Holzmichel-Filzhut das Mikro in die Hand und schaut, dass sich die Dancefloors durchaus auch mal leeren. »Schließlich wollen Club-Inhaber und Partyveranstalter mit dem Verkauf von Getränken Geld verdienen.«
»Der Kontakt zur Jugend hält einen jung«
Carmen Oswald schätzt an ihrem Mann, dass er so "weltoffen" ist. Er freut sich bis heute über seine "DeeJay Ossi"-Polohemden, -Trinkbecher und -Tassen ebenso wie über die Palmen und Lilien im Betzinger Garten. 2022 hat Ossi die Gruppe BestAgerDJs gegründet. »Der Kontakt zur Jugend hält einen jung«, ist er überzeugt. Viele DJs seien zu spezialisiert und unflexibel. "Ich hole aus Rock, Hip-Hop, Blues und Schlager meine Richtung raus". Van McCoys "The Hustle" oder Penny McLeans "Lady Bump" gehen immer, Hellos "New York Groove" ist "nach wie vor der Oberhammer": "Unter Partymachen versteht die Jugend heutzutage 80er-Jahre-Hits - wobei die nicht selten von Mitte der 70er stammen."
Wegen der Corona-Pandemie - »die Einnahmen sanken auf Null, die GEMA-Abbuchungen liefen weiter« - begann er 2020, mit den befreundeten DJs Claus »B.« Bense und Klaus »Hase« Stinner einmal im Monat samstags von 10 bis 12 Uhr via Wüste Welle Verbindung mit den Fans zu halten. Seit 2021 sendet der Tüftler zudem unter https://www.mixcloud.com/live/magic999/ Beats und Grooves in zahlreiche heimische Wohnzimmer. Zurzeit ist er auf 50er-Tour durch seine Wirkungsstätten - am 25. Oktober im Betzinger Jugendtreff Style bei der »Team65 Party« und feiert demnächst sein Jubiläum im Billy Bob's. »In der Umgebung kennt mich fast jeder«, sagt der 71-Jährige, »weil ich Reutlingen immer treu geblieben bin.« Kein Zweifel: DeeJay Ossi könnte Bücher übers Nachtleben dieser Stadt schreiben. (GEA)







