REUTLINGEN. Wurde der Mann nun durch das offene Fenster in der Asylbewerberunterkunft in der Ringelbachstraße in die Tiefe gestoßen oder ist er selbst gesprungen? Und was geschah danach? Wurde der schwer verletzte 27-jährige Afghane vom Täter auf einem Grünstreifen an der Straße anschließend noch vergewaltigt? Die Aussagen des Opfers hätten am Montag für Klarheit sorgen sollen, sie waren in Teilen aber reichlich verworren und widersprüchlich und möglicherweise auch von Angst beeinflusst.
Was klar ist: Die Verletzungen, die der 27-Jährige am 6. November 2024 durch den Sturz erlitten hat, waren lebensgefährlich. Nach den Erkenntnissen der Rechtsmedizinerin Dr. Melanie Hohner fiel der Mann »auf die rechte Körperseite«. Die Folge: Bruch des Oberschenkels, des rechten Arms sowie des Beckens. Außerdem war die Leber eingerissen. Darüber hinaus hatte der 27-Jährige einen heftigen Schock erlitten. »Es war ein lebensbedrohliches Verletzungsbild«, so Hohner. Nur eine Notoperation im Reutlinger Klinikum rettete sein Leben.
Gab es schon einmal eine Vergewaltigung?
Gestern erhoffte sich das Gericht nun, Genaueres über das Geschehen am 6. November zu erfahren. Das Opfer erschien diesmal vor der Schwurgerichtskammer des Tübinger Landgerichts, an Händen und Füßen gefesselt, denn der Mann sitzt gerade in Rottenburg eine Haftstrafe ab. Anfangs schien noch alles klar. Sie hätten an dem Tag in seinem Zimmer in der Asylbewerberunterkunft Alkohol getrunken und Marihuana geraucht. Und dann habe ihn der Angeklagte »vom Fenster runtergeworfen«, schilderte der 27-Jährige die Tat. Der Sturz ging sieben Meter in die Tiefe.
Vorher hat es wohl einen Streit zwischen beiden Männern gegeben. Der angeklagte 30-Jährige, der ebenfalls aus Afghanistan stammt, habe plötzlich einen Stuhl gegen das Fenster geworfen. Es ging dabei allerdings nicht zu Bruch. Als das Fenster danach offen gewesen sei, habe ihn der Angeklagte »so gestoßen, dass ich aus dem Fenster gefallen bin. Er war es«, bestätigte der 27-Jährige noch einmal dem Gericht.
Und nach dem Sturz sei er von dem Angeklagten sexuell belästigt worden. So etwas sei schon einmal passiert, meinte der 27-Jährige. Es sei dabei zum Geschlechtsverkehr gekommen. »Einvernehmlich?«, fragte der Richter. »Nein, ich wollte das nicht«, antwortete der 27-Jährige. Er habe sich damals aber nicht wehren können, weil seine Hände und Füße festgebunden gewesen wären.
Spermaspuren am Körper des Opfers
Dass es am 6. November 2024 auf dem Grünstreifen vor der Unterkunft zu sexuellen Handlungen gekommen ist, hat auch eine Reihe von Zeuginnen mitbekommen. Es waren Erzieherinnen eines Kinderhauses in der Nähe der Asylbewerberunterkunft, die mit den Kindern und deren Eltern gerade von einem Laternenumzug zurückgekommen waren. Offenbar bekamen aber nur einzelne Kinder, die mit ihren Eltern bereits auf dem Heimweg waren, etwas von dem sexuellen Geschehen mit.
Die Eltern und auch eine Oma, die bei dem Laternenumzug dabei gewesen war, erkannten aber eindeutig, was da gerade auf dem Grünstreifen vor sich ging. Auch eine Mitarbeiterin eines Pflegeheims sah die beiden Männer, die nach ihren Schilderungen zumindest teilweise nackt gewesen waren. Und alle Zeuginnen hatten nicht den Eindruck gehabt, dass das sexuelle Geschehen einvernehmlich gewesen war. Zudem hatten die Ermittler Spermaspuren am Körper des Opfers gefunden. Diese Spuren wurden von Spezialisten des Landeskriminalamts eindeutig dem Angeklagten zugeordnet.
Widersprüchliche Aussagen
Es schien eigentlich alles klar zu sein, als die Verhandlung gestern gegen Mittag für zehn Minuten unterbrochen wurde. Eine Erholungspause für alle Prozessbeteiligten. Danach drehte sich aber überraschenderweise das Aussagebild. Der 27-Jährige wand sich immer mehr bei seinen Aussagen. Augenscheinlich fiel es ihm schwer, auf die Fragen des Gerichts zu antworten.
Plötzlich war nicht mehr die Rede davon, dass er von dem Angeklagten aus dem Fenster geschubst worden sei. Es könne auch sein, dass er einfach so runtergefallen sei. Oder selbst gesprungen, behauptete der 27-Jährige. Es habe auch keinen sexuellen Kontakt gegeben. Auch vorher nicht. Er könne sich jedenfalls nicht erinnern, »ich hab nichts mitbekommen«.
Im Gerichtssaal
Schwurgericht: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Julia Merkle, Benjamin Meyer-Kuschmierz. Schöffen: Cigdem Schaich, Georg Krug. Staatsanwalt: Dr. Florian Fauser. Verteidgung: Maria Tunc. Rechtsmedizin: Dr. Melanie Hohner. Psychiatrischer Sachverständiger: Dr. Thomas Ethofer.
Mit jeder weiteren Frage des Gerichts wurden die Aussagen des 27-Jährigen undeutlicher und chaotischer. Es schien fast so, als sei in der Pause irgendetwas vorgefallen. Die Frage des Vorsitzenden Richters Armin Ernst, ob er von jemandem bedroht worden sei, verneinte der 27-Jährige.
Der Ermittlungsführer der Polizei, der das Opfer gleich nach dem Geschehen im November 2024 vernommen hatte, bestätigte eher den Verdacht des Richters. Bei ihm habe der 27-Jährige noch im Krankenhaus gesagt, dass er von dem Angeklagten aus dem Fenster geworfen worden sei. Auch bei allen weiteren Vernehmungen des 27-Jährigen sei immer von einem Stoß die Rede gewesen, so der Kriminalbeamte. Auch habe das Opfer damals eindeutig erklärt, dass es schon einmal von dem 30-Jährigen vergewaltigt worden sei.
Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt. (GEA)

