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Als Kind nach Reutlingen verschleppt: Jetzt ist Iwan Ischtschuk in der Ukraine gestorben

Iwan Ischtschuk mit 86 Jahren in Lugansk verstorben. Er wurde mit seinen Eltern nach Reutlingen verschleppt und erlebte in seinem Leben zwei Kriege in der Ukraine.

Iwan Ischtschuk bei seinem Besuch 2007 in Reutlingen. FOTO: STADT
Iwan Ischtschuk bei seinem Besuch 2007 in Reutlingen. Foto: STADT
Iwan Ischtschuk bei seinem Besuch 2007 in Reutlingen.
Foto: STADT

REUTLINGEN. Aus St. Petersburg hat das Reutlinger Stadtarchiv die traurige Nachricht erreicht, dass der Arzt Iwan Ischtschuk im Alter von 86 Jahren im ukrainischen Lugansk einer langjährigen Krankheit erlag. Es entbehrt nicht der besonderen Tragik, dass der Mann, der als achtjähriges Kind nach Reutlingen gekommen war und dort bei dem schweren Luftangriff am 1. März 1945 seine beiden Brüder Viktor und Alexej verlor, nun am Lebensende nochmals Zeuge und Leidtragender des Krieges in seiner eigenen Heimat werden musste.

Ischtschuks Eltern waren 1944 aus dem Donbass als Zwangsarbeiter nach Reutlingen verschleppt worden, wo sie mit ihren drei Kindern im Reichsbahnlager lebten. Dort, unweit des Güterbahnhofs, war man Fliegerangriffen besonders ausgesetzt, denn die Bahnanlagen waren ein bevorzugtes Ziel der amerikanischen Bomber. Ischtschuk und seine Mutter überlebten in einem Kanalisationsrohr, seine beiden jüngeren Brüder starben. Nach Krieg und Zwangsarbeit kehrte die Familie in die Ukraine zurück und fand eine kriegszerstörte Heimat vor.

Zur materiellen Not kam die Ausgrenzung, die den latent als Verräter gebrandmarkten ehemaligen Zwangsarbeitern entgegenschlug. Ischtschuk wurde Arzt und lehrte zuletzt an der Universität zu Lugansk Medizin. Gesundheitszustand und materielle Verhältnisse waren auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs prekär, und es war das Verdienst eines privaten Helferkreises um den damaligen Stadtrat Pfarrer Klaus Kuntz, dass ihm eine Zuwendung aus Reutlinger Spendenmitteln zukam.

Eindrucksvoller Bericht

Das Stadtarchiv kam im Zuge von Recherchen für das Dokumentationsprojekt »Reutlingen 1930–1950« mit Ischtschuk in Kontakt. Ein eindrucksvoller Bericht über seine Kindheitserinnerungen in Reutlingen, die Erlebnisse im Lager und den traumatischen Bombenangriff kurz vor Kriegsende fand im Wortlaut Eingang in die Reutlinger Geschichtsblätter 1995.

Nachdem Ischtschuk aus gesundheitlichen Gründen einer ersten Einladung nach Reutlingen nicht folgen konnte, gelang es 2007, einen Besuch zu organisieren. Besonders wichtig war ihm und seiner Tochter Elena, die ihn begleitete, ein Gräberbesuch in Münsingen. Denn dorthin, auf den russischen Friedhof beim ehemaligen Truppenübungsplatz, waren seine ursprünglich in Betzingen beigesetzten Geschwister umgebettet worden. Seither nehmen sich Münsinger Schulklassen und Bürger aus dem benachbarten Auingen der Pflege dieser Gräber an.

Ein Besuch im Stadtarchiv sowie ein Treffen mit der damaligen Oberbürgermeisterin Barbara Bosch und den Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderates waren ebenfalls Bestandteil seines mehrtägigen Aufenthalts. Im Januar 2016 fand auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in Zusammenarbeit mit dem Reutlinger Geschichtsverein ein Gedenkkonzert im Spitalhofsaal statt, das seine Nichte, die ausgebildete Konzertpianistin Alisa Dukhovlinova bestritt.

Versöhnung war Ischtschuks Anliegen. Das spricht noch aus den letzten Worten seines Reutlinger Berichts: »Leider brachte uns unser kurzer Aufenthalt in der Stadt Reutlingen nur Leiden und Gram. Das ist nicht Ihre [der Reutlinger] Schuld, daran sind nur Faschismus und der verfluchte Krieg schuld.« (pm)