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Aktuell Flucht

Reutlinger Kirchengemeinden starten Aktion »Niemand darf ertrinken«

Aktion »Niemand darf ertrinken«: Kirchengemeinden setzen Zeichen und hängen Rettungswesten an Kirchtürmen auf

Die Rettungswesten am Kreuzkirchen-Turm sind schon aufgehängt. FOTO: NIETHAMMER
Die Rettungswesten am Kreuzkirchen-Turm sind schon aufgehängt. FOTO: NIETHAMMER
Die Rettungswesten am Kreuzkirchen-Turm sind schon aufgehängt. FOTO: NIETHAMMER

REUTLINGEN. »Es soll kein Mensch ertrinken, der auf der Flucht ist«, sagt Asylpfarrerin Ines Fischer. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Dennoch passiert es tagtäglich. Doch vom massenhaften Sterben im Mittelmeer nimmt kaum noch jemand Notiz. Die evangelischen Kirchengemeinden in Reutlingen tun das sehr wohl. Am kommenden Sonntag werden sie auf ungewöhnliche Weise auf das Thema aufmerksam machen: Sie hissen Rettungswesten auf »ihren« Kirchtürmen oder vor den Gemeindezentren. Dabei geht es ihnen um viel mehr als Symbolik.

»Weniger Geflüchtete kommen an, aber mehr ertrinken«

»Niemand darf ertrinken« haben die beteiligten evangelischen Kirchengemeinden ihre Aktion getauft. Anlass ist die Friedensdekade, die vom 10. bis 20. November läuft. Deshalb wird der Volkstrauertag auch als Friedenssonntag begangen. »Wir wollen ein politisches Zeichen setzen, dass Geflüchtete in Seenot gerettet werden müssen und Aufnahme in einen sicheren Hafen finden sollen«, erklärt Ines Fischer die Aktion, an der sich die Kirchengemeinden auf unterschiedliche Art beteiligen.

Flagge zeigen beziehungsweise Rettungswesten aufhängen werden die evangelischen Gemeinden Reutlingen West-Betzingen, Neue Marienkirche, Sondelfingen, Rommelsbach, Ohmenhausen, Kreuzkirche, Auferstehungskirche und Citykirche, im Hohbuch, Asylpfarramt und an der Hochschule werden sie vor den Gebäuden drapiert.

Beim äußeren Zeichen lassen es die beteiligten Kirchengemeinden nicht bewenden. Das Thema soll in den Gottesdiensten am kommenden Sonntag aufgegriffen werden, in der Rommelsbacher Kirchengemeinde beim Friedensgebet am 15. November und in der Neuen Marienkirchengemeinde beim politischen Nachtgebet am 19. November.

Durch die zunehmende Kriminalisierung der privaten Seenotrettung seien immer weniger Schiffe im Mittelmeer unterwegs, um Ertrinkende zu retten, sagt Asylpfarrerin Fischer zu den Hintergründen der Aktion. »Weniger Geflüchtete kommen an, aber mehr ertrinken oder landen abgeschottet von der Welt in libyschen Lagern.« Man habe den Eindruck, die Verantwortung werde vor die Grenzen Europas ausgelagert, »damit gar nicht mehr gesehen wird, was passiert«. Und das, obwohl die Industrienationen – Stichwort Waffen – mitbeteiligt seien an den Kriegen und Konflikten, die Menschen in die Flucht treiben.

Am Volkstrauertag, wenn der Toten beider Weltkriege gedacht wird, wollen die evangelischen Reutlinger Kirchengemeinden auch daran erinnern, »wie viele Menschen als Opfer der aktuellen Kriege unterwegs sind und keine Hilfe erfahren«, so Fischer. Die Rettungswesten-Aktion ist alles andere als eine Eintagsfliege, erinnert die Asylpfarrerin. Die Kirchengemeinden setzen sich seit Jahren – beispielsweise in den Asylcafés – für Geflüchtete ein, unterstützten von Anfang an die Aktion Seebrücke ebenso wie die Kampagne »Sicherer Hafen« unterstützt, als der auch die Stadt Reutlingen mittlerweile deklariert ist. Aufmerksam machen, Verantwortung übernehmen, Haltung zeigen, flankierend Geflüchteten Hilfe leisten – das nennen auch die Pfarrerinnen und Pfarrer aus den Kirchengemeinden, die bei der Aktion mitmachen, als Ziel.

»Wir sind in der Verantwortung, gerade auch als Deutsche«

Man wolle Schicksale von Menschen sichtbar machen, "die systematisch unsichtbar gemacht werden", meint etwa Astrid Gilch-Messerer von der Kreuzkirchengemeinde. Es brauche eine Änderung in der Weltpolitik, um Fluchtursachen wie Krieg oder Klimawandel nachhaltiger zu bekämpfen, fordert sie. »Wir sind in der Verantwortung, gerade auch als Deutsche«, sagt Cornelia Eberle von der Citykirche und nennt als Beispiel Waffenexporte in Länder, in denen Krieg herrscht.

Das Thema Tod im Mittelmeer sei »abgeebbt« und kaum noch präsent, stellt Martin Burgenmeister von der Kirchengemeinde Reutlingen West-Betzingen fest. »Aber die Not ebbt nicht ab.« Als der Vorschlag zur Aktion »Niemand darf ertrinken« kam, war er sich nicht sicher, ob seine Kirchengemeinde mitzieht. Aber die Meinung sei einhellig gewesen, öffentlich erkennbar das Thema aufzugreifen. »Wir werden uns dem stellen. Und der Volkstrauertag 2019 soll der Ort sein, an dem das geschieht.«

Die Rettungswesten im Hohbuch sollen mangels Kirchturm gut sichtbar am Fahnenmast vor dem Gemeindezentrum baumeln. »Wir machen das, weil es gar nicht anders geht: Wir sehen die Not und können gar nicht anders, als zu handeln«, sagt Pfarrer Michael Dullstein. Und konkretisiert: durch die Menschen vor Ort, die den Geflüchteten helfen, aber auch als Stadt des »Sicheren Hafens«, die sie aufnimmt und unterstützt. Es sei ein ganz normaler Reflex, Menschen zu helfen. »Wenn das nicht mehr funktioniert, stimmt etwas nicht.« Die Rettungswesten sieht er als »Symbol der Heilung«, von der es nach den schrecklichen Erlebnissen der Geflüchteten sehr viel brauche. »Der Rettung schließt sich für die Traumatisierten eine Begleitung und die Integration in ein ganz normales Leben an.« (GEA)