REUTLINGEN. »Mit der neuen Sicherheitslage sind wir in eine andere Welt katapultiert worden. Ich habe mittlerweile täglich mit dem Thema zu tun«, stellt Wolfgang Epp im Gespräch mit dem GEA fest. Der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Reutlingen berichtet, inwiefern Aufgaben der Gesamtverteidigung die Wirtschaft betreffen, wie die Kammer nun dabei in der Interessenvertretung, der Beratung ihrer Mitgliedsunternehmen und deren Vernetzung gefordert sei und sich selbst auf neue Aufgaben in unsicheren Zeiten vorbereite. Die beschlossenen Milliardenschulden für die Aufrüstung der Bundeswehr böten Firmen in den kommenden Jahren etliche Chancen, erklärt Epp und fügt hinzu: »Vor allem die Metallverarbeiter in unserer Region Neckar-Alb überlegen gerade, wie sie sich für Wehraufträge aufstellen.«
Die IHK Reutlingen habe ein enges Verhältnis zur Bundeswehr gepflegt, als diese noch Standorte im Kammerbezirk gehabt habe, erinnert Epp. Doch mit der Auflösung von Kasernen, etwa in Engstingen und Münsingen, und weiterer Bundeswehr-Einrichtungen seien natürlich auch Kontakte weggebrochen. Ziemlich schnell nach Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 habe die IHK Reutlingen ein Netzwerk Defence and Security (Verteidigung und Sicherheit) aufgebaut, dem etwa 20 Mitglieder angehörten.
Federführung in Weingarten
Inzwischen hätten sich die zwölf IHKn in Baden-Württemberg darauf geeinigt, die Federführung bei dem Thema der IHK Bodensee-Oberschwaben in Weingarten zu übertragen, in deren Kammerbezirk die Hälfte der Verteidigungsindustrie Baden-Württembergs angesiedelt sei. Seit Kurzem sei bei der IHK Bodensee-Oberschwaben die »Koordinierungsstelle für Gesamtverteidigung« der baden-württembergischen IHKn eingerichtet. Diese unterstütze im Rahmen der gesetzlichen IHK-Aufgaben die Kommunikation zwischen Wirtschaft, Politik und Militär.
»Wir werden das für die Region Neckar-Alb, also die Landkreise Reutlingen, Tübingen und Zollernalb, bespielen und unsere Leute im Bereich Verteidigung zusammenbringen«, sagte Epp. Bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Berlin, Dachorganisation der 79 IHKn in Deutschland, sei mittlerweile ebenfalls ein entsprechendes Referat geschaffen worden.
Wenn nun eine dreistellige Milliardensumme für die Bundeswehr bereitgestellt werde, »dann braucht man Flächen, Firmen und Lieferketten«, so der 63-jährige Reutlinger Hauptgeschäftsführer und promovierte Verwaltungswissenschaftler: »Die IHK weiß, welche Firmen wir haben und kann diese Firmen auch zusammenbringen.« In der nach wie vor industriell geprägten Region Neckar-Alb gebe es vor allem im Landkreis Reutlingen und im Zollernalbkreis viele Metallverarbeiter. »Sie brauchen in der Wehrtechnik immer Metall, egal ob Sie Lastwagen oder Raketen oder Komponenten für Drohnen bauen.« Es gebe in der Region zudem Medizintechnikfirmen, die in Notfallpläne einbezogen werden könnten. Auch die IHK Reutlingen werde sich mit einem Notfallplan für sich selbst zu befassen haben.
Chancen für Unternehmen
Gesamtverteidigung umfasse die Gesamtheit und das Zusammenspiel aller militärischen und zivilen Maßnahmen zur Verteidigung. Dazu gehörten Themen wie Energieversorgung, Telekommunikation oder Verkehr, mit denen sich die IHK ständig beschäftige. In einem hybriden Krieg seien auch Angriffe auf kritische Infrastrukturen, Cyberangriffe, Spionage und Sabotage gegenüber Wirtschaftsunternehmen zu berücksichtigen. »Militärische Themen nehmen in unserer Arbeit auch bei Ursprungszeugnissen und Stellungnahmen für die Ausfuhrkontrolle an das entsprechende Bundesamt zu«, sagte der Hauptgeschäftsführer. Während der Zeit der Wehrpflicht bis Mitte 2011 hatten die IHKn Unabkömmlichkeits-Stellungnahmen zu verfassen – »vielleicht kommt ja auch das wieder«.
Da die Ausgaben für Sicherheit und Verteidigung stiegen, seien Potenziale für Transformation (Rüstungs- statt Autoteile), neue Geschäftsmodelle und Absatzmärkte absehbar. »Das wird Wachstumsimpulse geben. Es ist auf Jahre hinaus ein krisensicheres Geschäft, selbst bei einem Friedensschluss im Ukraine-Konflikt«, sagte Epp. Denn auch weitere Bedrohungslagen auf der Welt dürften Aufträge nach sich ziehen, schaut er auf Taiwan, Georgien oder das Baltikum.
Epp, der einst selbst als Wehrpflichtiger in Ingolstadt bei der Bundeswehr gedient hatte, verwies auf Statements in den deutschen Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung sowie im strategischen Konzept der Nato: »Erstmals seit Jahrzehnten ist Deutschland auch wieder militärisch bedroht. Im euroatlantischen Raum herrscht kein Frieden.« Ihm war jedoch auch wichtig hervorzuheben, dass nach diesen Konzeptionen die Vorbereitung auf Verteidigung als zentrales Instrument verstanden werde, »um einen Krieg zu vermeiden und einen Zustand des Friedens zu erreichen«. (GEA)