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Wie diese Frau aus St. Johann Geflüchteten an den Rändern Europas hilft

Belinda Kalender bringt Hilfsgüter zu Flüchtlingen und leistet Unterstützung in Lagern und auf der Straße. Was sie dabei erlebt, hat sie jetzt zusammengefasst.

Foto: Privat
Foto: Privat

ST. JOHANN. Die Hilfe für die Kriegsopfer aus und in der Ukraine lenkt die Aufmerksamkeit ab, aber auch aus anderen Weltregionen kommen nach wie vor Flüchtlinge in Europa an. Die St. Johannerin Belinda Kalender sammelt seit Jahren Hilfsgüter und schickt oder bringt sie an die Ränder Europas. Sie war jetzt mit einem Transport in Griechenland und hat einen Erfahrungsbericht geschickt.

Ankunft bei frostigen Temperaturen in Athen morgens, es geht zuerst in die Innenstadt zum Einkauf dringend benötigter Damenunterwäsche für den Khora Free Shop – der Umsonst-Laden einer internationalen Initiative, die Hilfe für in Not Geratene anbietet. Danach Besuch im Warenlager der SOS Refugiados in der Stournari 44, dann ein Abstecher zum Duschprojekt. Der Plan für die nächsten Tage steht – Food Packs vorbereiten, Einkauf im Großmarkt und Fahrt in Lager nördlich von Athen.

Eine Palette mit Hilfsgütern aus Deutschland ist eingetroffen und muss sortiert werden: Kleidung für den Umsonstladen und die Lager sowie Schlafsäcke für Obdachlose – es schneite in Athen. Die Schlafsäcke konnten in den späten Abendstunden noch verteilt werden. Die Menschen begeben sich erst in der Nacht an ihre Plätze, oft haben sie nur dünne Decken, sie freuten sich über die unverhoffte Gabe.

»Mit zwei Händen ist es schwer, mit nur einer linken Hand aussichtslos«

Dann Hygieneartikel und Kinderkleidung für das Duschprojekt am Viktoria Square liefern. Obdachlose Frauen mit Kindern oder solche, die Wohnungen ohne Wasseranschluss bewohnen, können hier baden, erhalten frische Kleidung und haben mal etwas Zeit für sich: Es gibt eine Kinderspielecke mit Betreuung.

Ein Wiedersehen gab es mit dem jungen Syrer Amer – seinen richtigen Namen und ein Foto will er nicht in der Zeitung sehen. Er hatte bei einem Luftangriff von russischen Fliegern seinen rechten Unterarm verloren. Amer war zuerst auf Samos, wurde dann nach Athen verlegt. Seine beiden Asylgesuche sind abgelehnt worden, er geriet in große Not, als die Geldleistungen gestoppt wurden. In Griechenland hat man es mit zwei Händen schwer, mit nur einer linken Hand ist es fast aussichtslos.

Amer hatte großen Hunger, als Kalender ihn traf, über Kontakte konnte ihm kurzfristig mit Lebensmitteln geholfen werden. Beim Brand auf Lesbos verlor er seine Habseligkeiten – Ersatz gab es in Form eines Koffers mit Kleidung und Dingen des täglichen Bedarfs. Kalender beschrieb den Fall Amer in ihrem Netzwerk, und es kamen Hilfsangebote. Zum einen Rechtsberatung für seinen nächsten Asylantrag, und eine weitere Organisation hat ihm Hilfe mit einer Prothese zugesagt. Schon bald erhielt er einen Termin in einer Privatklinik in Athen, die sich auf Prothesen spezialisiert hat, zum Maßnehmen.

Amer war als Student verhaftet worden. In den Monaten nach seiner Verhaftung durchlief er 13 Geheimdienstgefängnisse. Ein Wunder, dass er überlebte, was ihm dort angetan wurde, meint Kalender. Während ihres Aufenthalts begleitete er sie und erwies sich als nützlicher Übersetzer.

Am nächsten Tag wurden Essenstüten für Familien gepackt. Wer ohne Geldleistungen überleben muss, ist auf die Spenden angewiesen. Eine weitere Ladung wurde für den nächsten Tag vorbereitet, wieder für ein Lager, dort wurden Lebensmittel zum Camp gebracht und an die Familien verteilt. Für die Kinder war eine Tasche Schokolade dabei zum Verteilen, sie haben sich sehr gefreut.

Unangenehme Überraschung am Abend: Eine Helfergruppe aus Deutschland meldete, dass ein junger Syrer von München abgeschoben wurde und nun hilflos in Athen stünde und Hilfe braucht. Kalender fand ihn spät nachts an einem Imbiss am Omonia Square und konnte helfen. Er ist nun in einer Wohngemeinschaft für junge Männer untergekommen und hat ein Dach überm Kopf. Vor vier Jahren kam der Syrer mit 18 Jahren in Deutschland an. Doch er hatte in Griechenland seine Fingerabdrücke abgegeben, und so wurde er dorthin abgeschoben. Er spricht fließend Deutsch und muss nun Griechisch lernen.

Am nächsten Tag kamen weitere Hilfegesuche: Eine Afghanin mit vier Kindern und eine Mutter aus Kamerun wollten ins Duschprojekt. Die Kamerunerin brauchte außerdem Babynahrung und Windeln, weil auch sie keine Geldleistungen erhält und kein Bleiberecht in Griechenland hat. Kalender hatte sich mit den Frauen verabredet und sie zum Duschprojekt begleitet.

Beim anschließenden Kaffee die nächste Überraschung: Polizeieinheiten umzingelten das Viertel, Menschen mit dunklerer Hautfarbe wurden kontrolliert, viele verhaftet und abtransportiert. Menschen mit europäischem Aussehen hatten nichts zu befürchten.

Am Abend der nächste Notfall. Kalender trifft eine irakische Familie mit vier Kindern. Der vierte Asylantrag wurde abgelehnt, Unterstützung gibt es keine. Sie fürchtet, dass sie in eines der neuen Closed Controlled Access Center kommt, wo sie auf ihre Abschiebung warten muss. Und sie hat Hunger, deswegen wurde as Treffpunkt ein Supermarkt vereinbart. Amer konnte übersetzen, so wurde klar, dass der Familienvater auch medizinische Hilfe braucht. Er hat Schilddrüsenprobleme, Asthma und Bluthochdruck und benötigt dringend Medikamente.

»Er spricht fließend Deutsch und muss nun Griechisch lernen«

Mit der netten Mutter und einem sehr dünnen Jungen ging es zum Einkaufen, Damenbinden, Shampoo und mehr – und Schokolade für die Kinder. Der Junge freute sich so, die ganze Situation war so befremdlich, dass Kalender mitsamt der Familie Tränen in die Augen schossen. Zumindest konnte kurzfristig gegen den Hunger geholfen und der Mann an ein Ärzteteam vermittelt werden. Es gibt jetzt die Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben, falls sich der Gesundheitszustand verschlechtert. Die Familie wird wohl irgendwann abgeschoben werden, Aussichten auf Asyl haben sie nicht.

Nächster Tag: Spenden abholen, Lebensmittel einladen und Fahrt in ein Camp. Es hat immer noch Schnee, auch dabei ist ein Karton mit warmem Gestrickten der Reutlinger Stricklieseln. Wie immer sind die Strickensembles mit einer Tafel Schokolade versehen. Es war bitterkalt, die warmen Mützen aus Reutlingen kamen im richtigen Moment. An die Familien wurde Essen verteilt, an einen Kontakt im Camp wurden 100 handgenähte Schulmäppchen aus Trochtelfingen übergeben, bestückt mit Spitzern, Stiften und kleinen Überraschungen.

Das Camp hat sich verändert seit Kalenders letztem Besuch, eine Betonmauer wurde erbaut und das Sicherheitspersonal aufgestockt. Die vielen Zelte sind verschwunden. Ein Helfer fragte: Warum bringen wir Essen hierher? Es ist doch ein offizielles Camp?

Die nächsten Tage wiederholen sich: Einkäufe und Hilfeleistungen. Im Moment ist der Blick eher auf ukrainische Flüchtlinge gerichtet. Es kommen nicht mehr so viele Spenden an für die Flüchtlinge in Griechenland. Auch in Bosnien ist das zu spüren. Aber es gibt sie noch, die anderen Geflüchteten.

Zurück in Deutschland erreichen die St. Johannerin immer noch Anrufe und Nachrichten. Eine der schönsten: Amer hatte nochmals einen Termin zum Ausmessen der Prothese, sie sollte bald fertig sein. Kalender hofft, dass auch sein Asylgesuch nach erneutem Anlauf positiv verläuft. (GEA)

 

Der Krieg in der Ukraine hat es in den Hintergrund gerückt, im Mittelmeerraum kommen nach wie vor Flüchtlinge aus dem Mittleren
Der Krieg in der Ukraine hat es in den Hintergrund gerückt, im Mittelmeerraum kommen nach wie vor Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten an. Die Lebensumstände sind bedrückend. FOTOS: KALENDER
Der Krieg in der Ukraine hat es in den Hintergrund gerückt, im Mittelmeerraum kommen nach wie vor Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten an. Die Lebensumstände sind bedrückend. FOTOS: KALENDER
Foto: Privat
Foto: Privat

SPENDENKONTO

Wer die Arbeit der Flüchtlingshelfer finanziell unterstützen will, kann das über das Konto der Kirchengemeinde Gomadingen tun: DE59 6405 0000 0100 1420 33. Verwendungszweck: Flüchtlingshilfe Europa bei der Kreissparkasse Reutlingen. Spendenbescheinigungen werden ausgestellt. (eg)