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Aktuell Kirchtal

Offene Tür im Pfarrhaus

Michael Karwounopoulos, heute Dekan in Bad Urach, begann seine Karriere als junger Pfarrer mit vielen Aussiedlerfamilien im Münsinger Kirchtal

Bauboom im Kirchtal: 1993 standen bereits viele der Häuser, in denen Aussiedlerfamilien eine neue Heimat fanden. FOTO: GEA-ARCHI
Bauboom im Kirchtal: 1993 standen bereits viele der Häuser, in denen Aussiedlerfamilien eine neue Heimat fanden. FOTO: GEA-ARCHIV
Bauboom im Kirchtal: 1993 standen bereits viele der Häuser, in denen Aussiedlerfamilien eine neue Heimat fanden. FOTO: GEA-ARCHIV

MÜNSINGEN. Da hatte es ihn kalt erwischt: Pfarrer im Kirchtal. Im neuen Münsinger Ortsteil war der Asphalt noch nicht trocken, die Mieter hatten ihre Umzugskisten noch nicht ausgepackt und sicher auch sonst noch eine ganze Menge Alltagssorgen. In der Siedlung am Rande der Kernstadt fanden 1994 fast 2 000 Neubürger Obdach, die meisten Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Für die Russlanddeutschen war vieles neu, ebenso für Michael Karwounopoulos. Der Theologe trat hier direkt nach dem Vikariat seine erste Pfarrstelle an und nichts war so, wie er es in der Ausbildung gelernt hatte.

Als Vikar war er im Mössinger Teilort Öschingen, eine »traditionelle Gemeinde«, mit Pfarrhaus, Kirchengemeinderat und allem was dazugehört. Im Kirchtal richtete sich der junge Pfarrer in einer Wohnung im Badstuhl ein, eine Vorbereitung für das Amt des Deutschrussenpfarrers gab es nicht. »Dekan Eduard Seng hat mich da hineingeworfen«, erinnert sich Karwounopoulos.

»Die Kirche war ihrer Zeit voraus, wir waren hier lange vor den Vereinen«

Geholfen hat ihm sein multikultureller Hintergrund. »Ich komme aus zwei Kulturen, das kam mir zugute«, sagt der Spross einer griechischen Gastarbeiterfamilie. Doch bevor es zum kulturellen Austausch kam, galte es, den Kontakt zu den Schäfchen zu finden: »Das ist schon anders, wenn nicht alles im Gemeindeblättle steht.« – »Sie müssen in die Häuser gehen«, habe der Dekan gesagt. Und das hat er gemacht, aber auch an der Tür im provisorischen »Pfarrhaus« wurde viel geklingelt. »Da waren viele Jugendliche die ganz viel Zeit hatten.« Denn »Die Kirche war ihrer Zeit voraus, wir waren hier lange vor den Vereinen aktiv.« Viele schauten mal rein, um zu hören, was der Pfarrer zu erzählen hatte. Oder um ein gutes neues Jahr zu wünschen, auch nachts um zwei Uhr. Das sei in Russland üblich, hätten die Besucher ihm erklärt.

Michael Karwounopoulos ist seit 2014 Dekan in Bad Urach. FOTO: WURSTER
Michael Karwounopoulos ist seit 2014 Dekan in Bad Urach. FOTO: WURSTER
Michael Karwounopoulos ist seit 2014 Dekan in Bad Urach. FOTO: WURSTER

Und weil für seine Gemeinde alles genau so neu war, wie für den jungen Seelsorger, kamen sie auch mit Alltagssorgen in den Badstuhl. Sie suchten Hilfe beim Ausfüllen von Formularen oder bei Behördengängen, oft kamen wieder die Jugendlichen mit den Eltern im Schlepptau. »Die konnten oft besser deutsch.«

Wenn es ums Kirchliche ging, nahmen die Gespräche mit den Großfamilien manchmal ungeahnte Wendungen. »Wir haben über eine Trauerfeier gesprochen und dann ging das Gespräch gleich weiter zu Hochzeit und Taufe.« Die Kirchenfeiern unterschieden sich weniger im Inhalt – die Evangelisch-Lutherischen stellen die größte Konfessionsgruppe der Russlanddeutschen – als in der Ausgestaltung vom gewohnten Ablauf. Trauerfeiern am offenen Sarg und eine ungewohnte Unruhe bei den Feiern etwa: »Da darf man schon mal rausgehen, um zu reden oder eine Zigarette zu rauchen«, schmunzelt Karwounopoulos.

Beim Konfirmationsunterricht kamen drei Viertel der Konfirmanden aus Spätaussiedlerfamilien. »Das war eine besondere Situation«, so Karwounopoulos. »Es gab eine große Neugier, keine Aversionen, die haben das nicht gekannt.« Seiner Karriere hat der ungewöhnliche Start ins Berufsleben nicht geschadet. Michael Karwounopoulos ist seit 2014 Dekan im Kirchenbezirk Bad-Urach Münsingen. Als er sich um die Stelle bewarb, hat die Erinnerung an seine erste Stelle eine Rolle gespielt: »Ich habe mir überlegt, ich würde gerne wieder dort leben, wo ich positive Erfahrungen gesammelt habe.« Mindestens eines hat er aus der Zeit im Kirchtal mitgenommen. »Als Christ muss man den Menschen die Wohnungstür öffnen, bevor sie an die Kirchentür kommen.«

Die offene Tür, die Michael Karwounopoulos und Ehefrau Susanne gepflegt haben, zeigt immer noch Früchte.  Bei der Taufe eines Mädchens – jetzt als Dekan – stellte sich heraus, dass der junge Pfarrer 20 Jahren vorher schon die Mutter getauft hatte. So schließt sich der Kreis. (GEA)

30 JAHRE KIRCHTAL

Vor 30 Jahren wurde der Wohnungsbauschwerpunkt im Münsinger Kirchtal beschlossen, mehr als 2 000 Aussiedlerfamilien aus der früheren Sowjetunion fanden hier eine Heimat. In einer lockeren Reihe kommen Menschen zu Wort, die das Integrationsprojekt miterlebt oder begleitet haben. (GEA)