STUTTGART/MÜNSINGEN. Die Steuerreform, die der in Buttenhausen geborene Reichsfinanzminister Matthias Erzberger zwischen 1919 und 1920 in nur acht Monaten auf den Weg gebracht hat, wirkt bis heute in ihren Grundzügen nach. »Erstaunliches« sei ihm damit gelungen, das wurde jetzt im Rahmen einer Gedenkveranstaltung mehrfach betont. Eingeladen hatten die Steuerberaterkammer Stuttgart sowie das Haus der Geschichte und das Finanzministerium Baden-Württemberg. Als ein »Wegbereiter der deutschen Demokratie« bezeichnete Cornelia Hecht-Zeiler, Direktorin des Hauses der Geschichte, diesen »Anwalt der kleinen Leute«. Aus den Trümmern eines Obrigkeitsstaates habe er eine staatsrechtliche Gleichheit hervorgebracht: »Er hat mit Traditionen gebrochen und eine moderne Finanzverwaltung als Dienstleister für die Bürger geschaffen«. Eine »Mammutaufgabe«, die politischen Rückhalt und Kompromisse erforderte. Man müsse mit dem Blick zurück für die Probleme und Herausforderungen der Gegenwart sensibilisieren und somit die Demokratie für die Zukunft stärken.
Susanne Mack, Vizepräsidentin der Steuerberaterkammer, sprach von einer »gerechteren Verteilung der Steuerlast«. Erzberger wollte, dass die erhobenen Steuern für die Bürger nachvollziehbar und verständlich seien, er strebte Verlässlichkeit und Akzeptanz an. Das aber, so machte Landesfinanzminister Danyal Bayaz deutlich, sei in der Öffentlichkeit noch viel zu wenig bekannt, obwohl Erzberger »sicher einer der wichtigsten, vielleicht gar der wichtigste Politiker des 20. Jahrhunderts« gewesen sei. Bayaz drückte diese Bedeutung in Botschaften aus, ohne dabei Erzberger zu verklären: »Man kann was aus sich machen, wenn man sich anstrengt und zugleich unterstützt wird.« Erzbergers Lebenserfahrung und seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen hätten den Mann aus Buttenhausen geprägt, sie beeinflussten auch seine Steuerreformen, wie etwa die Einführung einer progressiven Besteuerung der Einkommen und somit das Prinzip, dass starke Schultern mehr tragen können.
Erzberger, der Schneidersohn, hat es in den Reichstag geschafft und sich der Politik verschrieben: »Wer etwas verändern will, soll anfangen und sich einbringen. Politik ist kein Privileg einer bestimmten Bevölkerungsschicht oder Profession oder Altersgruppe.« Er sei unbequem gewesen, habe genervt und somit gezeigt, dass es Mut brauche, die Demokratie zu erkämpfen. »Und es braucht Mut, sie zu verteidigen. Den Mut der Bürger, den Mut der demokratischen Parteien. Erzberger hatte diesen Mut«, hob Bayaz hervor. Wie Erzberger benötige man aber immer auch die Fähigkeit zur Selbstkorrektur und Mut zu Entscheidungen, die nicht allen gefallen. »Sein Lebensweg zeigt, dass man umdenken kann.« In nur acht Monaten habe er das gesamte Steuersystem umgekrempelt: neue Steuergesetze, eine komplett neue Finanzverwaltung, Finanzämter, eine einheitliche Einkommenssteuer. »Wer mehr verdient, zahlt prozentual mehr« – Erzberger habe die Machtverhältnisse umgedreht, das Reichsnotopfer eingeführt. Seine Begründung: »Die Vermögen müssen herangezogen werden, nicht nur Leib und Leben der Wehrpflichtigen«.
Trotz Widerständen habe er gezeigt, dass man »manchmal radikal neu denken und handeln muss«. Wenn es die Lage erfordere, brauche es einen großen Wurf. »Erzberger hat vereinfacht und vereinheitlicht, er handelte schnell und entschlossen.« Auch bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags 1918, mit der er Verantwortung übernahm und »die Maschinerie der Hetze« in Gang setzte, die ihn schließlich am 26. August 1921 im Schwarzwald das Leben kostete. »Wenn wir es zulassen, dass Hass gesät wird, dann werden wir auch Hass ernten. Das ist die Verantwortung, die wir als Bürger dieser Republik tragen«, so Bayaz. Erzbergers Leben ermahne alle, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Professor Paul Kirchhof, renommierter und bekannter Steuerrechtler, leitete mehrere Impulse von Erzbergers Vermächtnis ab. Dieser sei ein Verfechter des rechtlichen Prinzips der Allgemeinheit gewesen: der Allgemeinheit des Gesetzes, der Wahlen, des Geldes und der Steuern. Erzberger wollte den Staatsbankrott vermeiden, die Einheit des Reiches und das Parlament stärken und soziale Gerechtigkeit. »Er wollte ehrliche Steuerpflichtige, die einsichtig und überzeugt vom Steuersystem sind.« Und ihm sei klar gewesen, dass es im Land ein neues Gemeinsamkeitsgefühl brauche, einen »Zusammenhalt als Nation durch Arbeit für den Wiederaufbau«. Alle wesentlichen Steuergesetze, die heute noch gültig sind, gehen auf seine »großartige Leistung« zurück. »Matthias Erzberger war in den letzten 100 Jahren der alleinige Großreformer im Steuerrecht«, resümierte Kirchhof. Dieses »Juwel« müsse nun wieder durch eine neue Steuerreform »von allen Verfremdungen und Verirrungen« freigelegt werden. Denn auch Erzberger wollte Doppelbelastungen und ein unnötiges Durcheinander vermeiden. Sein Kampf habe dem »effizienten, unbürokratischen und vermittelbaren Steuerrecht« gegolten.
Erzbergers Wirken und sein Beitrag zur Funktion der ersten deutschen Demokratie, sein Erbe und sein zentraler Beitrag zur Stiftung von Vertrauen in die Weimarer Republik werden laut Geschichtsprofessor Wolfram Pyta »noch nicht genügend gewürdigt«. Erzberger sei 1919 der »heimliche Reichskanzler« gewesen, habe fraktionsübergreifend Projekte durchgeführt. Seine Ermordung und der Mord an Walter Rathenau im Jahr 1922 hätten den Weg für eine republikanische Selbstmobilisierung gepflastert. Ein Blick zurück mache deutlich, dass die Demokratie wehrhaft bleiben müsse. Musikalisch und tänzerisch umrahmt wurde die Veranstaltung, zu der auch Nachkommen der Familie Erzberger sowie Mitglieder des Geschichtsvereins Münsingen geladen waren, von Schülerinnen der Matthias-Erzberger-Schule in Biberach. (GEA)

