MÜNSINGEN. Das passiert auch nicht alle Tage am Amtsgericht Münsingen: Nach dreistündiger Verhandlung erhält der Mann, der eben noch auf der Anklagebank saß, seinen Führerschein zurück, den er vor viereinhalb Monaten abgeben musste. Der Prozess gegen den 44-jährigen Gleisbauer, der wegen angeblich »rücksichtslosen und gleichgültigen Überholens bei Gegenverkehr« einen Unfall verursacht hat, ist ohne ein Urteil beendet worden. Richterin Julia Felbinger stellte das Strafverfahren gegen die Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 1.000 Euro ein.
Die Verfahrenseinstellung beruht auf Paragraf 153a, Absatz 2 der Strafprozessordnung. Danach kann das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten das Verfahren vorläufig gegen Auflagen und Weisungen einstellen. Aber nur dann, wenn diese geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und die Schwere der Schuld der Einstellung nicht entgegensteht. Der Einspruch gegen den Wochen zuvor zugestellten Strafbefehl hatte Erfolg, der 45 Tagessätze à 50 Euro sowie die Entziehung der Fahrerlaubnis mit einer Sperre von zehn Monaten vorsah.
Gegenverkehr beim Überholen
Was war geschehen? Am 4. April des vergangenen Jahres war der Gleisbauer mit zwei Kollegen kurz nach 5 Uhr in der Frühe nach getaner Arbeit mit einem VW Caddy auf der Bundesstraße 313 zwischen Trochtelfingen und Engstingen unterwegs. Rund einen Kilometer vor dem Großengstinger Ortsschild fuhr ein Holztransporter mit knapp 60 Stundenkilometern, den der 44-Jährige überholte. Kurz vor dem Einscheren kam ihm ein Peugeot entgegen.
Der 23-jährige Kellner, der hinter dessen Steuer saß, konnte einen Frontalzusammenstoß nur durch das Ausweichen nach rechts in den Straßengraben verhindern. Wie durch ein Wunder wurde der junge Mann aus Reutlingen nicht verletzt, obwohl sein Auto nur noch Schrottwert hatte. Der Unfallverursacher, seine zwei Mitfahrer und der 56-jährige Lenker des Holztransporters, der »voll in die Eisen gestiegen ist« und aufs Bankett gelenkt hat, kamen mit dem Schrecken davon.
»Ich habe geschaut, es kam mir kein Fahrzeug entgegen«, bekräftigte der Unfallverursacher vor Gericht. »Ich habe noch abgebremst«, fügte er hinzu. Das könne nicht sein, sagte dazu Diplom-Ingenieur Matthias Fischer von der Dekra Reutlingen aus. Hätte der Caddy-Lenker zu Beginn der rund 400 Meter langen Geraden überholt, wäre es vermutlich zu keinem Unfall gekommen.
Den Berechnungen zufolge muss der Überholvorgang bei Dunkelheit später gestartet worden sein. Die 400 Meter lange Gerade führt über eine leichte Linkskurve weiter. Fischer geht davon aus, dass der Überholende wegen der ansteigenden Böschung, die links verläuft, die Scheinwerfer des Peugeots zu spät gesehen haben muss. Der Caddy-Fahrer habe »den Fehler im Überholvorgang gemacht«, den er zu spät begonnen habe. »Ihn fehlte die notwendige Sicht«, betonte der Schachverständige.
»Ich sehe darin kein rücksichtsloses Verhalten«, sagte der Rechtsbeistand des Unfallverursachers, der einräumte, dass sein Mandant »einen Fehler« gemacht habe. Der Staatsanwalt entgegnete, dass es sich um »keinen rücksichtsvollen Kraftfahrer« handelte, da er schon zwei Mal wegen zu schnellen Fahrens auffällig geworden sei.
Für Richterin Julia Felbinger gab es noch »offene Komponenten«, sie sprach unter anderem den Abstand zum vorausfahrenden Holzlaster und die Geschwindigkeit an. Deshalb regte sie an, das Verfahren einzustellen, wenn der Gleisbauer je 500 Euro an die Staatskasse und die Kreisverkehrswacht Reutlingen-Münsingen überweist. Alle Parteien waren letztlich damit einverstanden. (GEA)
IM GERICHTSSAAL
Richterin: Julia Felbinger Staatsanwalt: Maurizio Ruoff Rechtsanwalt: Klaus Schwartz Sachverständiger: Matthias Fischer