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Bürgerinfo zu Amazon-Ansieldung in Hengen: Unversöhnt, aber fair

Am 9. November ist der Bürgerentscheid. Die Argumente für oder gegen die Ansiedlung von Amazon in Hengen liegen auf dem Tisch. Bei der Bürgerinformationsveranstaltung hatten die Uracher die Gelegenheit, alle noch mal geballt von den Beteiligten zu erfahren.

Das Dorf ist gespalten. Das Bild zeigt das erste Transparent, das Hermann Kiefer inzwischen an die Tür seiner Scheuer gehängt ha
Das Dorf ist gespalten. Das Bild zeigt das erste Transparent, das Hermann Kiefer inzwischen an die Tür seiner Scheuer gehängt hat. Jemand hat mit Kreide »JA!« darunter geschreiben. Ein Maischerz, so Kiefer. Das »JA!« ist inzwischen verschwunden. Foto: Andreas Fink
Das Dorf ist gespalten. Das Bild zeigt das erste Transparent, das Hermann Kiefer inzwischen an die Tür seiner Scheuer gehängt hat. Jemand hat mit Kreide »JA!« darunter geschreiben. Ein Maischerz, so Kiefer. Das »JA!« ist inzwischen verschwunden.
Foto: Andreas Fink

BAD URACH. »Soll die Stadt Bad Urach städtische Flächen zur Ansiedelung von Amazon zur Verfügung stellen?« Diese Frage steht auf dem amtlichen Stimmzettel für den Bürgerentscheid am 9. November. Zur Entscheidungsfindung trägt die Broschüre bei, die die Bürger per Post zugeschickt bekommen haben - sie steht auch online auf der städtischen Homepage. Jetzt hat die Stadt zu einer Bürgerinformationsveranstaltung in die Festhalle eingeladen. Auf dem Podium Bürgermeister Elmar Rebmann, Professor Markus Nawroth von der IHK Reutlingen, Hermann Kiefer und Eberhard Wörz als Vertreter des »Bürgerforums« Hengen sowie Stella Shah und Martin Andersen von Amazon. Moderiert wurde die Veranstaltung, der rund 300 Menschen im Internet folgten, von Rüdiger Straub von der Hamburger PR- und Kommunikationsagentur Straub & Straub.

»Es geht um die wirtschaftliche Weiterentwicklung der Stadt«, fasst Bürgermeister Elmar Rebmann zusammen, was in seinen Augen und der Mehrheit des Gemeinderats für Amazon in Hengen sprechen. Er nennt die 150 neuen Arbeitsplätze und rund 350 weitere im Logisitik-Bereich, die das Verteilzentrum bringen werde. In Zeiten, in denen »nicht nur in unserer Stadt« Arbeitsplätze abgebaut werden, der Pluspunkt schlechthin. Rebmann: »Ein Amazon-Standort bedeutet Wertschöpfung vor Ort.« Und natürlich Gewerbesteuer, auch wenn niemand weiß, wie hoch die am Ende ausfallen wird, wie an dem Abend immer wieder thematisiert wird. Durch den Verkauf des Grundstücks wären die Kosten für die Erschließung des gesamten Gewerbegebiets gedeckt. Abzüglich Amazon bleiben immer noch 3,5 Hektar.

Moderator Rüdiger Straub vor der Uracher Festhalle. Es waren »nur« rund 220 Menschen gekommen, im Live-Chat waren es dafür um di
Moderator Rüdiger Straub vor der Uracher Festhalle. Es waren »nur« rund 220 Menschen gekommen, im Live-Chat waren es dafür um die 300. Foto: Andreas Fink
Moderator Rüdiger Straub vor der Uracher Festhalle. Es waren »nur« rund 220 Menschen gekommen, im Live-Chat waren es dafür um die 300.
Foto: Andreas Fink

Über das Unternehmen, das weltweit wächst, sagt der Bürgermeister: »Gerne sind wir bei dem wirtschaftlichen Wachstum dabei und profitieren von dieser Entwicklung. Zahllose Kommunen würden sich glücklich schätzen, wenn sie solche Anfragen bekämen.« Zustimmung von Professor Markus Nawroth, der in der Erschließung des Gewerbegebiets eine »Riesen-Chance« sieht, von der auch andere profitieren. Einer Stadt wie Bad Urach, die mehr Aus- als Einpendler hat, könne nichts besseres passieren als jetzt die Pläne von Amazon.

»Gerne sind wir bei dem wirtschaftlichen Wachstum dabei und profitieren von dieser Entwicklung«

Hermann Kiefer und Eberhard Wörz vom »Bürgerforum« Hengen machen klar: Wenn schon landwirtschaftliche Fläche aufgegeben wird, dann nicht an einen großen, internationalen Logistikkonzern, »der es aufgrund seiner marktbeherrschenden Stellung doch mit einigen Aufsichts- und Kartellgeschichten zu tun hat«, so Kiefer. Das Augenmaß sei hier nicht mehr eingehalten. »Wir wünschen uns, dass sich hier vorwiegend regionale Betriebe ansiedeln.« Mit langfristigen Arbeitsplätzen. Kiefer ist überzeugt, dass zwischen 23 und 5 Uhr »zwischen 20 und 50 große LKWs anrollen«. Das »Bürgerforum« wünscht sich ein Gewerbegebiet, in dem es in dieser Zeit »eher dunkel ist, wo eine gewisse Ruhe eintritt, wo auch die Umgebungsnatur sich in gewisser Weise erholen kann«. Die Natur, Ruhe, Schönheit der Landschaft werde mit dem Logistikzentrum mit Füßen getreten, sagt in der Fragerunde eine Frau aus Hengen. Eine andere fürchtet, dass der im Eingemeindungsvertrag festgeschriebene dörfliche Charakter durch das 800 Meter entfernte Verteilzentrum verloren gehe.

Es sei kein Widerspruch, bei Amazon zu bestellen, dem Verteilzentrum in Hengen aber kritisch gegenüber zu stehen, sagt Kiefer. Durch die Supermarkt-Strategie könnten viele Waren nur noch über Amazon bestellt und zu einem vernünftigen Preis in einer schnellen Zeit angeliefert werden, meint er. »Niemand von uns« sei so naiv zu glauben, dass durch eine Nicht-Ansiedlung der Einzelhandel wieder gestärkt werden könne. Egal, wo die Logistikzentren von Amazon sind: In Baden-Württemberg ändere sich nichts. Durch eine Ansiedlung in Hengen aber eine ganze Menge für die Region. Kiefer: »Ein Verteilzentrum gehört dort hin, wo die Verkehrsinfrastruktur gegeben ist.« Also in die Nähe der Autobahn und einer mehrspurigen Bundesstraße. Die Ansiedlung in Urach hält er für »eine der schlechtesten möglichen Varianten«.

Sein Mitstreiter Eberhard Wörz macht auf die Verkehrsbelastung in und um Bad Urach aufmerksam und auf die Tatsache, dass viele der versprochenen Arbeitsplätze keine Vollzeit-Arbeitsplätze und viele in Spitzenzeiten »vielleicht sogar sozialversicherungsfrei« seien. Ein großer Teil davon könnte durch Roboter und KI ersetzt werden. Und die, die hier oder bei Subunternehmen entstehen, »gehen bei DHL oder anderen bisherigen Dienstleistungsunternehmen verloren«, sagen sie.

»Ein Standort macht keinen Sinn, wenn die Zustellfahrzeuge regelmäßig im Stau stehen«

Für Amazon auf dem Podium Stella Shah, die Standortleiterin des Verteilzentrums in Sindelfingen, und Martin Andersen, Country Director Amazon Logistics. Die beiden Führungskräfte nennen Zahlen: Der Einstiegslohn beträgt 16,05 Euro pro Stunde für Jobs ohne Vorqualifikation. Nach zwei Jahren ist man automatisch bei 18,09 Euro - beides also deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn. Fachkräfte und Teamleiter verdienen ab 21,98 Euro aufwärts. Plus: bis zu 4.500 Euro im Jahr für Weiterbildungsmaßnahmen, Deutschlandticket, betriebliche Altersvorsorge und andere Boni mehr. Was Stella Shah bei Amazon besonders schätzt, sind die »flachen Hierarchien und extrem schnellen Entscheidungswege«. Etliche ihrer Führungskräfte haben als einfache Lagerarbeiter angefangen.

Immer wieder taucht das Thema Verkehr auf. Die Sorge, in einer der Steigen um Urach hinter einem schweren LKW hinterherkriechen zu müssen. Klare Antwort der Amazon-Leute und Verkehrsplaner Andreas Weber: Die Laster sind nur nachts unterwegs. Und es sind auch keine 50, sondern maximal 30. "Der Standort Urach ist ein Mittelding", sagt Martin Andersen, "da kommen pro Nacht 15, 18, 19." Zu den Liefer-Vans: »Ein Standort macht keinen Sinn, wenn die Zustellfahrzeuge regelmäßig im Stau stehen«, sagt der Logistik-Chef, die Päckchen müssen möglichst schnell beim Kunden sein. Jetzt schon ist vertraglich geregelt, dass die Ortsdurchfahrten von Wittlingen und Hengen nur für Vans offen ist, die hier etwas ausliefern. Geplant ist über kurz oder lang eine reine Elektro-Flotte.

Auf dem Podium: (von links) Hermann Kiefer und Eberhard Wörz vom »Bürgerforum« Hengen, Professor Markus Nawroth von der IHK Reut
Auf dem Podium: (von links) Hermann Kiefer und Eberhard Wörz vom »Bürgerforum« Hengen, Professor Markus Nawroth von der IHK Reutlingen, Bürgermeister Elmar Rebmann, Moderator Rüdiger Straub, sowie Stella Shah und Martin Andersen von Amazon. Foto: Andreas Fink
Auf dem Podium: (von links) Hermann Kiefer und Eberhard Wörz vom »Bürgerforum« Hengen, Professor Markus Nawroth von der IHK Reutlingen, Bürgermeister Elmar Rebmann, Moderator Rüdiger Straub, sowie Stella Shah und Martin Andersen von Amazon.
Foto: Andreas Fink

Ob das »Bürgerforum« ein alternatives Nutzungskonzept habe, falls Amazon beim Bürgerentscheid weggefegt wird, will jemand wissen. »Nein, letzten Ende nichts Konkretes«, sagt Eberhard Wörz. Es sollte halt eine Firma sein, »der wir ein bisschen mehr Vertrauen schenken«. Hermann Kiefer blickt auf Gewerbegebiete in der Umgebung und spricht von Betrieben, »die in Hengen nicht möglich waren, weil man da - meiner Meinung nach - schon seit Jahren mit dieser großen Sache rechnet«. Hier hakt Bürgermeister Rebmann ein und verlangt Namen. Kiefer nennt Becka-Beck. Im August hat der Bäckermeister seinen sechs Millionen Euro teuren Erweiterungsbau im Nachbardorf eingeweiht. Heiner Beck habe das in Böhringen getan, weil er an Ort und Stelle seinen Betrieb erweitert hat, stellt der Bürgermeister klar, und nicht, weil man ihm in Hengen wegen der großen Sache Steine vor die Füße gelegt habe.

Ein Mann fragt, ob sich der Bürgermeister mit Kollegen ausgetauscht hat. Mit dem aus Sindelfingen hat er gesprochen, sagt Rebmann. »Ein Anruf, und das Problem wird gelöst«, hat er gehört. Amazon-Logistik-Chef Andersen dazu: Wenn es ein Problem gebe, komme man ganz schnell mit Nachbarn und Gemeinden zusammen - und löse es. Er ist mittlerweile verantwortlich für 78 Zentren. »Wir sind 78 Mal gute Nachbarn.«

»Vielleicht können Sie einen kleinen Job abgreifen, wenn Amazon kommt«

Immer wieder taucht der Punkt Gewerbesteuer auf. Amazon versichert, dass vor Ort immer eine GmbH gegründet werde und damit Geld fließe. Wie viel, kann und will wegen des Steuergeheimnisses niemand sagen. Ein Mann bohrt mehrfach nach - er glaubt partout nicht an nennenswerte Beträge. Er wolle den Benefit durch Amazon nicht nur an dieser Steuer festmachen, sagt Bürgermeister Rebmann, die Gemeinde profitiere auch über die Zuweisungen über die Umsatzsteuer. Immer wieder hebt der Rathaus-Chef die neuen Arbeitsplätze hervor.

Ob sie in der extensiven Dachbegrünung keinen Mehrwert im Vergleich zur derzeitigen Nutzung der Ackerfläche sehen, werden die Vertreter des »Bürgerforums« gefragt. Kiefer, der ebenso wie Wörz einen landwirtschaftlichen Betrieb mit Sonderkulturen und Dachbegrünungspflanzen hat, reagierte verhalten: Die Dachbegrünung hält er »eher für ein Feigenblatt«. Wegen der vielen Parkplätze würden »mindestens 90 Prozent der Fläche des Amazon-Grundstücks versiegelt«. Aber er sei natürlich nicht dagegen, räumte er ehrlich ein. Was Moderator Rüdiger Straub flapsig kommentiert und damit allgemeine Heiterkeit auslöst: »Vielleicht können Sie einen kleinen Job abgreifen, wenn Amazon kommt.« (GEA)