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Aktuell Literatur

Tübinger Bücherfest startet heute

Auftakt mit der Landtagspräsidentin Muhterem Aras und dem Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger

Muhterem Aras und Hermann Bausinger diskutierten im Tübinger Sparkassen-Carré.  FOTOS: STRÖHLE
Muhterem Aras und Hermann Bausinger diskutierten im Tübinger Sparkassen-Carré. FOTOS: STRÖHLE
Muhterem Aras und Hermann Bausinger diskutierten im Tübinger Sparkassen-Carré. FOTOS: STRÖHLE

TÜBINGEN. Als sie zwei Jahre alt war, ging Muhterem Aras’ Vater als Gastarbeiter nach Deutschland. Die Familie blieb in der Türkei. Einmal im Jahr nur konnte die Tochter ihren Vater sehen. Als sie mit 12 Jahren ebenfalls nach Deutschland ziehen und den Vater jeden Tag sehen konnte, habe sich das wie Heimat angefühlt, sagte sie am Mittwochabend im Tübinger Sparkassen-Carré bei der Auftaktveranstaltung zum Tübinger Bücherfest (5. bis 7. Juli).

Heute ist Muhterem Aras, Schwäbin mit kurdisch-alevitischen Wurzeln und Grünen-Politikerin, Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg. Und hat, moderiert von Reinhold Weber, mit dem in Reutlingen lebenden Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger Gespräche über die Bedeutung von Heimat in einer Gesellschaft der Vielfalt geführt, die im Tübinger Verlag Klöpfer-Narr als Buch herausgekommen sind. Als erstes Buch in dem neu gegründeten Verlag, wie Programmgeschäftsführer Hubert Klöpfer betonte.

Als »beherzt-couragierte Frau« stellte Klöpfer die Landtagspräsidentin vor, während er Hermann Bausinger den »Nestor der Tübinger Empirischen Kulturwissenschaft« nannte.

Keine Frage von Trachtenhüten

»Heimat. Kann die weg?« heißt das Buch. Ein Ja auf diese Frage war von keinem der Diskutanten auf der Bühne – neben Muhterem Aras und Moderatorin Bernadette Schoog auch Hermann Bausinger – zu erwarten. Vielmehr ging es darum, was Heimat ausmacht, welchen Stellenwert sie hat, wo ihre Herausforderungen liegen. Darum, dass Heimat ist, aber auch beständig neu entsteht.

Entscheidend sei, so Aras, dass man sich einer Gesellschaft zugehörig fühlt, unabhängig davon, ob man selbst oder die Vorfahren in diese Gesellschaft hineingeboren wurden. Wenn einem die Menschen dort, wo man lebt, auf Augenhöhe begegneten und es einen echten Austausch gebe, sei es auch für Migranten leichter, heimisch zu werden. Erst recht, wenn man sich zu gemeinsamen Regeln und Werten wie dem deutschen Grundgesetz bekenne. Zu kurz greifen würde, so Aras, wenn man als Heimat nur gelten ließe, was mit Kindheitserinnerungen verbunden ist, denn: »Dann würde ich hier ja nie ankommen.« Sie plädierte für einen offenen Heimatbegriff, der nicht ausgrenzt.

Hermann Bausinger schloss sich dem an. »Heimat besteht nicht darin, dass alle für die gleichen Trachtenhüte schwärmen«, trat er vereinzelt noch in den Köpfen wabernden Vorstellungen entgegen. Es habe immer wieder gesellschaftliche Bewegungen gegeben, die sich gegen den etwas »verhockten« Begriff von Heimat gewehrt hätten, sagte er – und nannte als Beispiel die 68er. Bausinger ließ auch anklingen, dass unter den Nationalsozialisten der Begriff der Abstammungsheimat verheerende Folgen für die Menschen hatte. Nicht nur der Blick auf Heimat habe sich verändert, sondern auch die Fakten, so der Kulturwissenschaftler. Die Alteingesessenen, das seien früher Mitglieder der Gesellschaft gewesen, die etwas zu sagen hatten. Heute, in einer mobilen und vernetzen Welt, denke man beim Wort Alteingesessene »eher an eine Delle im Sofakissen«, sagte er, und das Publikum lachte.

Plädoyer für Gelassenheit

Aras warf das Wort Parallelgesellschaften in die Runde. Sie warb dafür, »den Menschen, die zu uns kommen, und auch uns, Zeit zu geben«. Zeit, um anzukommen und sich heimisch zu fühlen. Integration sei nicht einfach ein Schalter, den man umlege, sondern immer ein Prozess, der Geduld erfordere. Parallelgesellschaften auf Zeit seien da unvermeidlich. »Wir sollten gelassener damit umgehen«, sagte sie. Dass sie selbst inzwischen auf Deutsch träume (anfangs auf Türkisch), bestätige ihr, »dass ich angekommen bin«.

Ihre Eltern, so Aras, hätten viel dazu beigetragen, dass sie ihren Lebensweg so, wie sie ihn ging, gehen konnte. Vor allem, indem sie ihr und ihren Geschwistern die Bildung ermöglicht hätten, die sie selbst nie genossen – die Mutter kam als Analphabetin nach Deutschland.

Bausinger plädierte dafür, Heimat bei all den stillen Wandlungen und disruptiven Veränderungen, die die Welt erlebe, ein menschliches Gesicht zu geben. Darauf komme es an. (GEA)

 

 

Foto: Christoph B. Ströhle
Foto: Christoph B. Ströhle