REUTLINGEN. Letzte Woche bekam das franz.K den POPLÄND-Preis als beste Livemusik-Spielstätte. Am Samstag zeigte sich beim siebten Takt Bizarre Festival auch, warum das Kulturzentrum diesen Preis verdient hat. Aus Freiburg, aus Coburg und sogar aus den Niederlanden waren einige der etwa 300 Fans der düsteren Elektromusik angereist, um vier Gruppen zuzuhören und ordentlich abzutanzen. Schwarze Lack- und Lederoutfits dominierten im Publikum.
Zum Auftakt spielte das Cold-Wave-Trio Minimal Trees aus Ludwigsburg, das neben drei Keyboards bei einigen Stücken auch eine Gitarre und mit Sängerin Nicole die einzige Frau an diesem Abend als Alleinstellungsmerkmal hatte. Das Trio stellte sein aktuelles Album »Places« vor, das es am Merch-Stand auch in lila Vinyl gepresst verkaufte.
Dann wurde es laut beim Auftritt der Lokalmatadoren Jürgen Schips und Matthias Günzler, die als Duo Plastikstrom bekannt und an ihrem Markenzeichen, dem Beinahe-Irokesen-Undercut-Haarschnitt, unschwer zu erkennen sind. Musikalisch lässt sich das Duo als Missing Link zwischen Joachim Witt und Till Lindemann beschreiben. Heftiger Applaus brandet auf, als sich Günzler - einer der Macher des Takt Bizarre - nicht nur als Reutlinger vorstellt, sondern auch noch ein »aufgewachsen in Orschel-Hagen« hinzufügt. Mehr Street Credibility geht in Reutlingen nicht, wenn man wie Günzler mit rollendem R in Titeln wie »Amoklauf« oder »Wandertag« ein düsteres Heimatbild zeichnet. In »Tote Stadt« beklagt Günzler, dass die »Jugendkultur ausgemerzt« wird, während die Innenstadt stirbt, weil überall Handyläden aufmachen. Das Lied sei entstanden, als er vor einigen Jahren an einem Sommerabend mit dem Zug von Tübingen nach Reutlingen gefahren sei, erzählt Günzler dem GEA. »Damals waren es die Handyläden, heute würde ich wahrscheinlich von Barbershops texten«, meint er. Eigentlich war der Auftritt von Plastikstrom als Releaseparty für das neue Album gedacht, doch es wurde nicht rechtzeitig fertig, sodass nur drei Songs davon gespielt wurden.
»Wir treten selten in der Gegend auf. Meistens spielen wir in Ostdeutschland oder sogar in Skandinavien, weil es dort mehr schwarze Szene gibt als hier. Deshalb ist unser Heimspiel hier im franz.K etwas Besonderes«, erzählt Günzler.
Dystopisch-theatralische Bühnenwelt
Kurz nach dem Orschel-Hagener Plastikstrom kommt dann - in Person von Fix8:Sed8 - die Apokalypse. Der Wiesbadener Sänger Martin Sane hat sich mit Skulpturen von aufgespießten Alien-Körperteilen eine dystopisch-theatralische Bühnenwelt erschaffen. Mit gelbem Regenmantel, Gesichtsmaske mit Nuklearsymbolen kämpft er sich durch diese von Fallout und Pandemie gezeichnete Welt. Auf einer Videoeinspielung flackern entsprechend düstere Bilder. Der Bandname umschreibt einen Zustand in der Psychiatrie, in dem ein Patient fixiert und sediert, also gefesselt und mit Medikamenten ruhig gestellt wird. Während der aufwendige Bühnenauftritt an Slipknot erinnert, orientiert sich Sane musikalisch eher an kanadischen Bands wie Skinny Puppy oder Front Line Assembly. Fix:Sed8 stellten ihr Anfang Oktober erschienenes neues Album »Octagon« vor, das Sane am Merch-Stand auch in Vinyl signierte.
Den Abschluss und Headliner machte das Duo Klangstabil, dessen barfüßig auftretender Sänger Boris May Reutlinger Wurzeln hat, aber inzwischen in Norwegen wohnt. Sein Sprechgesang ist eher poetischer Punk als Rap. An den Synthesizern wurde May durch Klangfrickler Maurizio Blanco ergänzt, den ein Fan mit einem handgeschriebenen »Maurizio, ich liebe Dich«-Plakat abfeierte. Sieben Jahre hatte das Duo Pause gemacht, entsprechend wurden seine tanzbaren Sounds gefeiert.
An den Headliner Klangstabil schloss sich noch eine Party mit einem DJ an. Der bereits zum wiederholten Mal aus Freiburg angereiste Fan musste glücklicherweise nicht mehr heimfahren, sondern hatte sich in Reutlingen ein Hotelzimmer genommen. Ganz so tot, wie Plastikstrom es besingt, ist die Kulturszene in Reutlingen glücklicherweise noch nicht, zumindest nicht an diesem Abend. (GEA)


