Logo
Aktuell Klassik

Staunenswertes vom Gebläse

Das Harmoniumfestival im nordrhein-westfälischen Brüggen rückt ein unterschätztes Instrument ins Blickfeld

Edles Instrument, begeisternde Künstler: Pianist Oliver Drechsel (von links), Rezitatorin Viola Gräfenstein und Christoph Lahme
Edles Instrument, begeisternde Künstler: Pianist Oliver Drechsel (von links), Rezitatorin Viola Gräfenstein und Christoph Lahme mit einem Harmonium. Fotos: Varady
Edles Instrument, begeisternde Künstler: Pianist Oliver Drechsel (von links), Rezitatorin Viola Gräfenstein und Christoph Lahme mit einem Harmonium. Fotos: Varady

BRÜGGEN. Ein Gebläse, zwei Tretschemel, ein Spielwerk mit Tasten, verschiedene Register und ein Gehäuse, das dies alles trägt – daraus besteht ein Harmonium. Und doch steckt hinter diesen Begriffen eine wohltönende Welt für sich, die es am verlängerten Wochenende in der Burggemeinde Brüggen im Westen Nordrhein-Westfalens für sich zu entdecken galt.

Das bereits zum dritten Mal veranstaltete europäische Harmoniumfestival widmete sich vier Tage lang einem Instrument, das mittlerweile nicht mehr häufig zu finden ist. In früheren Zeiten hingegen wurde die Haus- und Salonmusik nur zu gerne damit geschmückt, oft mit der Absicht, Orchestermusik mangels Tonträger in die eigenen vier Wände zu holen.

Der schwedische Chor Eskilstuna Oratoriekör mit Begleitung eines Harmoniums.
Der schwedische Chor Eskilstuna Oratoriekör mit Begleitung eines Harmoniums. Foto: Dagmar Tumele
Der schwedische Chor Eskilstuna Oratoriekör mit Begleitung eines Harmoniums.
Foto: Dagmar Tumele

Das Festival stand unter dem Motto »Original und Bearbeitung«. In sieben Veranstaltungen wurde dem Harmonium viel abverlangt: die Fülle eines Chores zu ersetzen, ein ganzes Orchester oder einzelne Instrumente nachzuformen.

Die Reise durch die Welt des Harmoniums startete mit einem Requiem-Konzert in der Klosterkirche St. Nikolaus: schmal, hoch, mit Kreuzwegwandteppichen geschmückt. Zunächst hörte man Bearbeitungen aus der Hand namhafter Komponisten. Liszt, Sigfrid Karg-Elert und August Reinhard haben Teile aus Verdis oder Brahms’ Requiem bearbeitet.

Friedvoller Auftakt

Christoph Lahme eröffnete auf einem rund 140 Jahre alten Instrument. Eine friedliche Atmosphäre erwuchs aus dem sublimen und beseelten Spiel Lahmes. Auch gemeinsam mit Robert Weinsheimer am Klavier wurde man gewahr, welch eine Zauberkraft hinter der Kombination dieser beiden Instrumente steckt. Kristallklar glitzernd das Klavier, schimmernd und verschwommen das Harmonium.

Im Fokus stand die deutsche Erstaufführung des Requiems von Tadeusz Klaus (hinter welchem sich der Veranstalter des Festivals, Klaus Langer, verbirgt). Ein Werk mit Schönklang und Wärme, verpackt in spätromantische Klanglichkeit. Teile wie das »Dies irae« und das »Libera me« gaben sich aufschreiend, rhythmisch, textausdeutend, doch in toto war es ein Werk von friedvoller Atmosphäre.

Interessante Einblicke in die Welt des Harmoniums: Marc Gornetzki in Aktion.
Interessante Einblicke in die Welt des Harmoniums: Marc Gornetzki in Aktion. Foto: Dagmar Tumele
Interessante Einblicke in die Welt des Harmoniums: Marc Gornetzki in Aktion.
Foto: Dagmar Tumele

Die wie Engelsglocken perlenden Klavierornamente Weinsheimers im letzten Teil »In paradisum« zu ruhigen Harmoniummelodien Lahmes trugen die stilvolle, graziöse Altstimme Andra Isabel Prins’ und den extra aus Schweden angereisten, hoch inspirierten Eskilstuna Oratoriekör unter der kompetenten Leitung von Mila Thoors. Eine bewegende Einstimmung!

»Original und Bearbeitung« war auch Thema eines Vortrags von Klaus Langer. Er vermittelte interessante Einblicke in das Musikverständnis des 19. Jahrhunderts, aufbauend auf der Tatsache, dass die Zielgruppe der Tasteninstrumente vor allem Frauen waren. Mit diesen sollten Werke vom Konzertsaal ins Häusliche geholt werden – genau dies wurde im Rittersaal der Burg Brüggen mit zwei Stücken und drei Künstlern getan. Die Annäherung, die Abschnitte original und bearbeitet gegenüberstellte, gewährte Einblicke in die Unterschiede der Instrumentierung. Sebastian Langer ließ seine Klarinette gefühlvoll, sonor und mit Kraft strömen, qualifiziert begleitet von Jori Schulze-Reimpell (Klavier) und Marc Gornetzki (Harmonium).

Erinnerung an August Reinhard

Die beiden Letzteren gestalteten ebenfalls das Abendkonzert, indem sie einen Komponisten und Arrangeur gerade auch für das Harmonium in den Fokus rückten: August Reinhard, der unter der Überschrift »Immortellen« berühmte Werke transkribiert hat. Auf einem etwa 150 Jahre alten Henkel-Harmonium ersetzte Gornetzki Chöre, Orchester oder auch einzelne Instrumente. Die Klangfarben des Harmoniums eigneten sich wunderbar als Ersatz auch für dynamisch hoch aufschwingende Bereiche, und die Kombination der beiden Tasteninstrumente war durch das achtsame und hellhörige Zusammenspiel beider Künstler geprägt.

Der nächste Tag brachte zwei weitere Klavier-Harmonium-Paare auf den Plan – und zwei Konzerte mit einigem Überraschungspotenzial. Zunächst Pariser Flair, ein imaginärer Spaziergang durch malerische Gassen, am Eiffelturm vorbei, mit einer Weißbrotstange in der Hand, überaus anschaulich belebt von Viola Gräfenstein mit ihrer edlen und rauchigen Stimme in ausgewählten Gedichten. Oliver Drechsel (Klavier) und Christoph Lahme (auf einem Harmonium aus Paris) lieferten französische Klangfarben, erzeugten eine gemütliche Atmosphäre, fühlten und agierten vereint, sodass man sich diesem Bild fasziniert überließ mit dem einzigen Gedanken: Très charmant!

Die zweite Überraschung waren die Scott-Brüder, Jonathan und Tom Scott aus England, die mit ihrer prallen Tatkraft und jugendlichem Eifer faszinierten, wenn sie in vollste Tiefen tauchten, im Klang badeten, sich im Meer der Töne geradezu wälzten, aber niemals die kleinen Gesten vernachlässigten. Die Uraufführung von Tom Scotts »Dances for Harmonium and Piano« war ein effektvolles und zum Schluss fetziges Erlebnis. In summa rockten die beiden sowohl den Bechsteinflügel als auch das Mustel-Harmonium.

Der Ferrari unter den Harmonien

Auf dem Mustel, dem »Ferrari unter den Harmonien«, wurde auch das vorletzte Konzert erhellt. Ellen Corver (Klavier) und Dirk Luijmes (Harmonium) entführten die Zuhörer ins Hause Robert Schumanns, im Gedenken an das Clara-Schumann-Jubiläumsjahr. Nicht auf Effekt gespielt, ganz eins mit ihrem Instrument, präzise und bemerkenswert aus einem Guss kamen die Werke. Eine Besonderheit war die von Luijmes rekonstruierte Konzert-Ouvertüre op. 55 von Henry Litolff, welche Johannes Brahms seinerzeit für »Physharmonika« und Klavier bearbeitet hatte. Wo man der Marseillaise und dem Köpfen von Robespierre begegnete und der souveränen Virtuosität von Luijmes und Corver lauschte.

DAS HARMONIUM

Anders als das Orgelpositiv und die Truhenorgel ist das Harmonium keine Kleinorgel. Der Luftstrom wird zwar wie bei der Orgel mit einem Blasebalg erzeugt – den man beim Harmonium durch Treten auf die »Tretschemel« während des Spielens befüllt. Anders als bei der Orgel erzeugen jedoch nicht Pfeifen den Ton, sondern Metallzungen am Ein- oder Auslass der zentralen Luftkammer, die vom Luftstrom zum Schwingen gebracht werden. (GEA)

Der Ausklang geschah mit einem Ausflug in den als Caféhaus umgemodelten Rittersaal, wo das Salonorchester Varieté (Stefanie Irgang an der Violine, Arne Diekow am Cello, Elena Migliore am Klavier, Alena Wilsdorf an der Flöte, Sebastian Langer mit Klarinette und Klaus Langer am Harmonium) Werke unterschiedlichster Art zwischen Teller, Tassen, Besteck, Kaffee und Kuchen in hingebungsvoller und sorgfältiger Weise bettete.

Wenn man der Vielfalt und hohen Qualität gedenkt, darüber hinaus auch nicht im falschen Brüggen gelandet ist (Es gibt nicht nur ein Brüggen in Deutschland!) und den immensen Wert einer solchen Veranstaltung zum Erinnern an ein wunderschönes Instrument achtet, kann man sich freudig an der Vorstellung entzücken, dass dieses Festival in zwei Jahren erneut stattfinden wird. (GEA)