REUTLINGEN. Andere Gruppen kramen ihre Klassiker hervor, weil die Fans das neuere Zeug nicht kennen. Bei Kettcar hingegen ist das neue Zeug schon wieder Klassiker: »München« vom aktuellen Album »Gute Laune ungerecht verteilt« über einen gebürtigen Bayern, der wegen seiner dunklen Hautfarbe ständig nach seiner Herkunft gefragt wird, gehört zum Soundtrack der Demokratiebewegung. Auch beim Hafensounds-Festival am Samstagabend ist das Publikum im Echaz-Hafen voll dabei, als die Band aus Hamburg den Song anstimmt.
Platz nicht ganz gefüllt
Kettcar, das ist Hamburger Schule der zweiten Generation, ein paar Jahre nach den Glanzzeiten der Goldenen Zitronen der neuerliche Beweis, dass man aus politischer Ansage, literarischem Anspruch und sogar einer kleinen Schopenhauer-Lektion eingängige Rockmusik machen kann. Obwohl sie die Prominentesten sind dieses Jahr beim Hafensounds-Festival, ist der Platz lange nicht voll - die verrückten Franzosen von Les Yeux d'la Tête am Donnerstag haben besser gezogen.
Eine zirkusreife Bühnenshow wie diese ist nicht die Sache der Hamburger. Marcus Wiebusch steht fest verwurzelt wie eine Eiche am Mikro. Seine Crew immerhin geht gelegentlich ganz schön ab. Und Bassist Reimer Bustorff sorgt mit seinen Ansagen für Lacher. Etwa, wenn er erzählt, wie ihre Mütter für die erste Kettcar-Platte zusammengelegt haben. Oder wenn er augenzwinkernd jammert, wie lange es gedauert habe, bis endlich aus Reutlingen eine Einladung kam. »Meine Mutter sagte, wenn sie dich nicht einladen, dann bist du eben nicht gut genug.«
Gemischtes Publikum
Nun sind sie also da, zum ersten Mal, und abgesehen davon, dass es eher ein paar Hundert sind vor der Bühne als die möglichen Zweitausend, ist alles wunderschön. Das Wetter ist so lauschig, dass die regengebeutelten Hanseaten vor Neid fast platzen. Das Publikum, verblüffend gemischt aus sämtlichen Altersgruppen, ist so feierfreudig und enthusiastisch, dass selbst die Nordlichter auf der Bühne eine gewisse Rührung nicht verbergen können. Und mit dem Tübinger Duo Pauline und Aleksi als Vorgruppe ist man so geschmeidig in diesen Rock-Pop-Abend geglitten, wie sich das nur denken lässt. Pauline Ruhe raunt dunkle Balladen zwischen Western-Epos und Bar-Zwielicht, die sich oft ins Ekstatische steigern; Aleksi Rajala ersetzt dazu an der Akustikgitarre klopfend, schlagend, zupfend eine ganze Rockband.
Bei Kettcar ist gerade das in sich Ruhende von Sänger Marcus Wiebusch der Kern. Gefühlt sind es Kurzromane, was er in den Songs erzählt. Mal fast gerappt wie in »München« zu schwerem Hip-Hop-Beat, mal gesprochen wie eine Spoken-Word-Nummer oder mit dunkler Stimme gesungen. Mal ist der Sound zu einem sanften Schweben heruntergedimmt, mal brettert die Band in krachenden Gitarrenflächen los. Oft geht es um Politik, für Demokratie, gegen Rassismus; oft geht es ums Persönliche. Wiebusch stellt sich vor, wie sein 20-jähriges Ich ihm einen Brief schreibt - was hat er aus seinem Leben gemacht? Er beobachtet das Geschehen in einer Ankunftshalle, sinniert übers Aufbrechen und Ankommen - und immer wieder über die Liebe: »Hamburg ist ja die Hauptstadt der Gefühle.«
Das ist nie simpel, sondern immer vielschichtig und mit wachem Blick für die Widersprüche des Lebens. Ist skeptisch und lässt doch stets einen Hoffnungsschimmer blinken. Ist voll rauer Poesie - und kommt doch als kraftvoll-eingängiger Rocksound rüber. Das Publikum tanzt und feiert mit seinen Hamburger Helden. »Ich hoffe, wir dürfen mal wiederkommen«, ruft am Ende Reimer Bustorff. Aber klar doch. (GEA)



