NIZZA. Auch Anthony Passeron, zweiter Finalist des Prix Premiere, begibt sich in seinem Roman »Die Schlafenden« auf Spurensuche. Diese führt ihn nicht nach Afrika, sondern ins Hinterland von Nizza. Dort betrieb seine Familie eine gut gehende Metzgerei, ehe die auch auf dem Land aufkommenden Supermärkte den dörflichen Geschäften das Wasser abgruben.
Es geht Passeron durchaus auch um diese ganze Familiengeschichte, in die ebenfalls Migration hineinspielt – war seine Großmutter doch als junge Frau aus der Armut Norditaliens auf Arbeitssuche nach Frankreich eingewandert.
Im Besonderen geht es Passeron jedoch um seinen Onkel Désiré, der seit Langem verstorben ist und dessen Leben in der Familie das große Tabuthema darstellte. Was Passeron anstachelte, nachzuforschen, um das, was wie ein lähmender Schatten über der Familie lag, ans Licht zu holen. Um es zu verstehen.
Absturz eines Hoffnungsträgers
Désiré, älterer Bruder von Passerons Vater, ist in den 1980er-Jahren der Hoffnungsträger der Familie. Während Passerons Vater in die Fußstapfen seines eigenen Vaters tritt und die Metzgerei übernimmt, erwirbt Désiré als Erster aus der Familie einen höheren Schulabschluss. Beim örtlichen Notar bekommt er die angesehene Stelle eines Assistenten.
Doch eben aufgrund seines breiteren Horizonts wird Désiré das Dorf zu eng. Er bricht zu einem fluchtartigen Aufenthalt nach Amsterdam auf, kehrt mit einer minderjährigen Freundin zurück, die ihn bald verlässt. Er hängt mit einer Clique von Freunden ab, die ebenso gelangweilt und auf der Suche nach aufregenden Erfahrungen sind wie er. Eine neue Droge soll Türen zu neuen Welten öffnen. Das Heroin jedoch treibt Désiré und seine neue Partnerin Brigitte binnen Kurzem in einen Teufelskreis aus Sucht, Geldbeschaffung und schließlich Krankheit – er hat sich durch die mit einem Freund geteilte Nadel mit Aids angesteckt.
Wacher Blick für Verhältnisse
Anthony Passeron hat für seine Spurensuche einen komplett gegensätzlichen Weg gewählt wie Raphaëlle Red. Anstatt zu poetisieren, erzählt er die Geschichte seiner Familie sachlich, streng chronologisch und schnörkellos. Dabei jedoch mitfühlend und mit einem wachen Blick für die Zusammenhänge.
Dieser Ebene stellt Passeron im Wechsel eine zweite gegenüber, indem er, auch das sachlich und präzise, berichtet, wie französische und US-Forscher fieberhaft nach den Ursachen einer neuen, beängstigenden Seuche suchen: Aids. Es ist ein Wettrennen mit dem Virus – aber auch ein Wettrennen amerikanischer und französischer Forscher um Ruhm und Ehre. Ein wahrer Wissenschaftsthriller. Und das Buch eine faszinierende Kombi aus Familienroman und Sachbuch. (akr)