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Hanns-Josef Ortheil stellt seinen Roman in der Reutlinger Stadtbibliothek vor

Hanns-Josef Ortheil hat einen Roman über seine Wuppertaler Kindheit geschrieben. In der Reutlinger Stadtbibliothek stellte er das Buch vor.

Hanns-Josef Ortheil mit seinem Buch »Schwebebahnen« in der Reutlinger Stadtbibliothek.
Hanns-Josef Ortheil mit seinem Buch »Schwebebahnen« in der Reutlinger Stadtbibliothek. Foto: Marie-Louise Abele
Hanns-Josef Ortheil mit seinem Buch »Schwebebahnen« in der Reutlinger Stadtbibliothek.
Foto: Marie-Louise Abele

REUTLINGEN. Die Stühle wurden knapp am Freitagabend in der Reutlinger Stadtbibliothek, wo der Autor Hanns-Josef Ortheil für eine Lesung angekündigt war. Das Reutlinger Publikum hatte Glück, denn Ortheil war trotz zweier angebrochener Rippen da. »Wir hatten Sorge, ob er überhaupt kommt«, sagte Stadtbibliotheksleiterin Beate Meinck zur Begrüßung.

Ortheil war zum Tag der Bibliotheken zur Lesung geladen. Als Sohn einer Bibliothekarin erzählte der 73-Jährige bildreich, wie ihn Lesestoff von klein auf begleitete und prägte. So ließ ihn sein Deutschlehrer schnell in der Pause nebenan die neuesten Bücher holen, natürlich nicht ohne Rüffel vom nächsten Lehrer, wenn er zu spät zurückkam.

Traumatisierte Familie

Viele seiner eigenen Werke beschäftigen sich mit Stationen seiner nicht immer einfachen Kindheit. Sein neuester Roman »Schwebebahnen« spielt Ende der 1950er-Jahre und mittendrin im Geschehen der durch Krieg und Verlust der vorherigen vier Söhne traumatisierten Familie.

Die dumpfe Stimmung der Nachkriegszeit ist spürbar, gleichzeitig auch »der deutsche unermüdliche Wille zum Wiederaufbau«. Der Autor blickt mit einer erkundenden Erzählerstimme auf »den kleinen Mann«, der - wie er - Josef heißt, von klein auf Klavier spielt und sich mit sich selbst unterhält, »heimlich - und mit dem Stift«. Eine Doppelbegabung. So höre er den Text mit allen Vokalitäten, als sei er Musik und Rhythmus. Außerdem lebt, denkt und fühlt er anders als andere Kinder.

Ein Mädchen namens Mücke

Seine Geschichte entstammt einem Abschied. In Köln noch das schwierige Kind ohne soziale Kontakte, soll es für ihn in Wuppertal besser werden. Alles ist neu, irritierend. Ängste überwiegen. Er beschreibt den ersten Kontakt mit dem winkenden Mädchen namens Mücke im Nachbarhaus - ihre leichte, ihre ein Jahr ältere, erfahrenere Sichtweise, die ihm künftig hilft, viele Hürden zu nehmen. So zum Beispiel die erste Schwebebahnfahrt, die er aus Versehen ohne seinen Vater machen muss, der überrascht am Bahnsteig zurückbleibt. Die Leichtigkeit, die er plötzlich auf der Fahrt spürt, ist »wie Fliegen«. Die Schwebebahn wird zur beruhigenden, entlastenden, der Erde enthobenen Metapher. Ähnlich fühlen sich die warmen Erinnerungen an selbstgemachte Pappardelle an, die es in Mückes halb italienischem Zuhause gibt. »Ohne Mücke wäre das Leben dort wieder gescheitert.«

Die Augenblicke der Erinnerung geschehen in Präsenz, erzeugen einen großen Sog, als erlebe der Leser sie gerade mit. Von Professor Dr. Bernhard Rank (Freunde der Stadtbibliothek Reutlingen) darauf angesprochen, zieht Ortheil Parallelen zu Walter Benjamins Zitat: »Der Erzähler entnimmt das, was er erzählt, der Erfahrung – der eigenen oder der, die ihm mitgeteilt wird. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören.« Zusammenfassend kann von einer Entwicklungsreise gesprochen werden, die Josef sowohl psychologisch als auch kulturell durchläuft, wobei er Vertrauen in sich selbst und Interesse an anderen entdeckt. Ist der Protagonist autobiografisch oder eine Kunstfigur, wollte Moderatorin und Professorin Dr. Renate Overbeck wissen. Es gebe unendlich viele Ähnlichkeiten zwischen dem kleinen Mann und ihm, erklärte Hanns-Josef Ortheil. Es bleibe aber immer der fiktive Moment im Roman, die Beobachtung von außen. Damit wird die Figur unverwechselbar. (GEA)