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Gescheiterte Lebenslügen: »Wer hat Angst vor Virginia Woolf ...?« in Stuttgart

Man ist kinderlos und erfindet die Existenz eines Sohnes. Oder steigert sich in seinen Kinderwunsch so hinein, dass man scheinschwanger wird. Edward Albee hat solche Lebenslügen und deren Entlarvung schon 1961 auf die Theaterbühne gebracht. Und zugleich bissige Gesellschaftskritik geübt.

Exorzismus einer Lebenslüge: Matthias Leja (George) und Sylvana Krappatsch (Martha) als intensiv agierendes Protagonistenpaar in
Exorzismus einer Lebenslüge: Matthias Leja (George) und Sylvana Krappatsch (Martha) als intensiv agierendes Protagonistenpaar in Stuttgart. Foto: Arno Declair
Exorzismus einer Lebenslüge: Matthias Leja (George) und Sylvana Krappatsch (Martha) als intensiv agierendes Protagonistenpaar in Stuttgart.
Foto: Arno Declair

STUTTGART. Wenn eine Familien-Konstellation neurotisch ist, dann diese: Martha, die Tochter eines College-Präsidenten, ist gefangen in den Konventionen der amerikanischen Upperclass der Fünfzigerjahre und versucht vergeblich, diesen – ihren freigeistigen Lebenshunger hemmenden - Rollenmustern zu entkommen. Auszubrechen aus dem Korsett. Gesellschaftliche Stereotypien hinter sich zu lassen. Stereotypien, die ihr, der Kinderlosen, die fehlende Mutterschaft als Versagen spiegeln. Was sie zunehmend aggressiv werden lässt. Und kränker. Alkoholkrank.

Der Hass entlädt sich auf ihren Mann, George. Geschichtsprofessor an selbigem College, dem ihr Vater vorsteht. Der seinen Schwiegersohn nicht hochkommen lässt. Weil er dessen aus der historischen Forschung abgeleitetes Gebot der Humanität verachtet. Da steht ihm der junge Nachwuchsbiologe Nick schon wesentlich näher mit seinem Vorhaben, im Reagenzglas den neuen Menschen zu züchten. Groß. Blond. Blauäugig. Und kerngesund. Ein richtiger Mann eben.

Lebenslügnerisch eingeflochtener Sohn

Der es allerdings im richtigen Leben auch noch nicht zum Vater gebracht hat - die freudige Erwartung seiner girlyhaft jungen Ehefrau Honey entpuppte sich als Scheinschwangerschaft. Und der von Martha in ihre Erzählungen lebenslügnerisch eingeflochtene Sohn existiert nur in ihrer Einbildung. Den ihr George auf exorzierende Weise austreibt. Indem er sie glauben macht, jemand hätte just während sie sich anschickte, den jungen Nick in der Küche zu verführen, an der Türe geklingelt und vom Unfalltod des »Sohnes« berichtet.

Jetzt hat Tina Lanik am Schauspiel Stuttgart dieses Stück von 1961 neu inszeniert. Und dabei scharfsinnig erkannt, dass »Wer hat Angst vor Virginia Woolf …« mehr ist als ein Familiendrama in der Strindberg-Nachfolge. Natürlich kannte der Autor Edward Albee den bedeutenden schwedischen Kollegen, mit dem ihn durchaus vieles verbindet. Doch bei Albee ist das sezierende Ausbreiten psychischer Hochspannungen zwischen aneinander vorbeilebenden und doch nicht voneinander weg könnenden Eheleuten nicht – wie bei Strindberg – der künstlerische Zweck, sondern das Mittel. Nämlich das Mittel, geradezu beißende Gesellschaftskritik am Amerika seiner Zeit anzubringen. An der Verlogenheit. An Doppelmoral. An der Selbstgerechtigkeit jener, die es nach materialistischen Normen »zu etwas gebracht« haben. Weiße Männer natürlich. Die ihre Ehefrauen auf die Kindererziehung und die Grundfrage »Was ziehe ich an, was koche ich« reduzieren. Kann so ein Stück heute, mehr als 60 Jahre später, noch funktionieren? Vor allem, wenn es die Regisseurin und ihre Kostümbildnerin Heidi Hackl in ihrer Entstehungszeit belassen, es also nicht zu »aktualisieren« versuchen?

Sinnfällig hergestellte Zeitlosigkeit

Und ob. Denn Albees »Klagelied auf den Zustand der USA in den sechziger Jahren«, welches Maria Eisenmann in ihrer Analyse »Das Amerikabild im Werk Edward Albees« erkannt hat, lässt sich auf Trumps Amerika, in dem brachial am Rad gesellschaftlicher Entwicklungen und Errungenschaften zurückgeschraubt wird, genauso anstimmen. Bühnenbildner Stefan Hagemeier stellte daher sinnfällig Zeitlosigkeit her, indem er kein überladenes Wohnzimmer aus dem Amerika von 1961 aufbauen ließ, sondern einen entsprechend der Szenenfolge mit weißem Lichtrahmen in wechselnden Größen gefassten schwarzen Kasten als Spielfläche wählte. Eine Art Blackbox also, was zugleich dem von Albee vieldeutig verwendeten Begriff der »Box« entspricht. Im Amerikanischen bedeutet dieses Wort im übertragenen Sinn die Ausweglosigkeit, in der eine Person steckt. Was ja auch auf die vier Handlungsträger in seinem Stück zutrifft.

Aufführungsinfo

Nächste Aufführungen im Schauspielhaus Stuttgart: 1., 11. und 15. November. (GEA)

Diesbezüglich sind insbesondere Liz Taylor und Richard Burton für die Rollen der Martha und des George geradezu ikonografisch geworden. Aber in Sachen radikaler bühnenpräsenter Selbstentäußerung der Figuren brauchen sich weder Silvana Krappatsch noch Matthias Leja hinter den bedeutenden Rollenvorgängern verstecken. Leja wirkte gegenüber Burton sogar noch professioneller, weil er nicht, wie jener, partiell sich selbst spielte und die gebotene Distanz zur Partie wahrte. Was keineswegs zulasten der Intensität und Differenzierung gegangen ist. Fantastisch, was er gleichermaßen wie Krappatsch an unterschiedlichen Stimmfarben, Dynamiken, Sprachtempogestaltung und Bewegungsspannung herausgearbeitet hat. Gestützt auf Laniks Personenregie, welche die das Stück durchziehende Dialektik zwischen Tragödie und Farce, Verzweiflung und Spielerischem, Hemmungslosigkeit und von einer lieblosen Gesellschaft eingefordertem Alltags-Einerlei über die gut zwei Stunden hin spürbar werden ließ. Worin sich auch Teresa Annina Korfmacher (Honey) und Peer Oscar Musinowski (Nick) kongenial einfanden. Zur passenden Musik von Jörg Gollasch, der das bekannte Kinderlied »Wer hat Angst vor dem bösen Wolf« parodistisch mit stimmigen Play-Bach- und Cool-Jazz-Anspielungen verbunden hat. (GEA)