BAD URACH. Das »Magnificat« ist ein einzigartiger Text der christlichen Tradition. In der Ich-Perspektive schildert darin Maria die Erfahrung, als gewöhnlicher Mensch von Gott gesehen zu werden. Martin Luther hat diesen Lobpreis 1520/21 ins Deutsche übertragen. Weil ihm der Gedanke zentral war, dass Gott sich jedem einzelnen zuwendet. Was wiederum den Bürgerrechtler und Theologen Friedrich Schorlemmer ansprach. Weil auch aus dessen Sicht jeder einzelne gefragt ist - auch wenn es um die Verteidigung der Demokratie oder der Umwelt geht.
Mit Gotthold Schwarz und seinem Bach Consort Leipzig bereitete Schorlemmer daher ein Programm mit Magnificat-Vertonungen vor, das bei den Herbstlichen Musiktagen 500 Jahre von Luthers Übersetzungsleistung feiern sollte. Corona kam 2021 dazwischen. Nun konnte Schorlemmer nicht mehr dabei sein, er starb vor einem Monat. Schwarz las stattdessen einen Brief von ihm vor, in dem dieser den Grundgedanken Luthers herausarbeitet, der sich mit seinem deckt: Der Einzelne ist wichtig, vor Gott - und gegenüber seinen Mitmenschen und der Schöpfung.
Ein Text, sechs Vertonungen
Tragisch, dass Schorlemmer das Konzert nicht mehr miterleben konnte. Denn es zeigte, wie reichhaltige Inspiration dieser Gedanke für so viele Komponisten gewesen ist. In Schwarz' Zusammenstellung beleuchten und verstärken sich dabei gegensätzliche Herangehensweisen. Zudem spielte Schwarz mit dem Bach Consort Leipzig und dem Sächsischen Barockorchester mit dem Raum der Amanduskirche.
Den Anfang macht Heinrich Schütz (1585-1672), in dessen blockhaftem Wechsel der Rhythmik noch die Renaissancezeit nachhallt. Eindrücklich gelingt ihm die Verbindung von archaischer Feierlichkeit und Schwung. Bei Johann Christian Bach (1735-1782), dem in London ansässigen Bach-Sohn, von dem Mozart viel lernte, klingt es in der Tat fast nach Letzterem: voll geigenselig glitzernder Geschmeidigkeit und verspielter Eleganz. Die ist seinem Zeitgenossen Johann Ludwig Krebs (1713-1780) nicht fremd - doch der bricht sie auf durch unbegleitete Deklamationen im Stil der Gregorianik. Rokokopracht trifft Choralschlichtheit - interessant!
Telemanns Klangmalerei
Bach-Zeitgenosse Georg Philipp Telemann (1681-1767) teilt den Text in einzelne Sätze auf und macht daraus ein wahres Oratorium mit ariosen Soli. Leichtfüßig lässt er Marias Gotteslob klingen - und setzt Formulierungen wie »Er stößt die Mächtigen vom Thron« mit plastischer Lautmalerei um. Mit Johannes Eccard (1553-1611) geht es zurück in die Renaissance. Wie aus fernem Elysium wehen die Harmonien aus dem Chorraum hervor, wo Schwarz die Sänger hier platziert hat. Ehe das Schlusswort natürlich Johann Sebastian Bach hat. Dessen »Magnificat« fast schon opernhafte Ausmaße annimmt, mit Pauken, Trompeten, Streichern, Holzbläsern. Packend stellt er die Sphäre göttlicher Herrlichkeit dem Einzelnen in seiner Demut gegenüber.
Schwarz und seine Musiker haben das vorbildlich nah am Originalklang gestaltet. Mit einem Dutzend Sängerinnen und Sängern, die klar und leuchtend die Linien zogen und fast alle auch solistische Aufgaben übernahmen. Mit Instrumentalisten auf historischen Instrumenten, die darauf ein wunderbares Farbenspiel entfalteten. Mal zart und schlank, dann wieder prachtvoll jubilierend. Das Göttliche und das Menschliche fanden hier musikalisch auf berührende Weise zueinander. (GEA)