REUTLINGEN. Die Erde ist ein silberner Gymnastikball und rollt über die Bühne des Tonne-Theaters. Manchmal setzt sich einer der Schauspieler auf sie. Am Boden, inmitten einer weitflächigen Projektion von Welt- und Himmelsbildern, sitzt Galileo Galilei, oft versunken, zeichnet Linien auf den Boden oder schreibt.
Tonne-Intendant Enrico Urbanek hat als erste Premiere der neuen Spielzeit Bertolt Brechts Stück »Leben des Galilei« inszeniert. Das Theater hat dafür den Saal geteilt, Sibylle Schulze, die auch die Kostüme schuf, gestaltete die Bühne. Die Zuschauer sitzen zur Rechten und Linken eines breiten Streifens, der sich durch den Saal zieht. Der Streifen ist Spiel- und Projektionsfläche, endet zu beiden Seiten in schwingende Türen, die Kreuze schmücken. Über den Türen befinden sich kleine Galerien – zur einen Seite hin sind dort metallische Klangkörper aufgehängt, angeschlagen erst spät; auf der anderen versammeln sich Musiker, um Hanns Eislers Kompositionen in der Bearbeitung von Michael Schneider zu spielen. Zwischen beiden forscht und debattiert Galileo, hofft, verhandelt, verzweifelt. Dort schwingt das Pendel physikalischer Experimente, leuchtet der Nachthimmel, die Mondlandschaft.
Schwach vor der Folter
Brechts Zeichnung des Begründers der modernen Naturwissenschaften ist ambivalent. Da ist Galileo, der junge Forscher voller Enthusiasmus und Mut, der ein neues Zeitalter voraussieht. Und da ist der alte, mürrische, von sich selbst enttäuschte Galileo, der seine Thesen widerrufen hat. Der große Physiker wird gezeigt als einer, der gerne gut isst und trinkt und nachgibt, als die Inquisition ihm ihre »Instrumente« zeigt, mit Folter droht. Die Kirche fürchtete Galileo, der nicht nur behauptete, dass die Erde sich um die Sonne drehe, sondern es aufgrund sorgfältiger Beobachtung des Himmels auch beweisen konnte.
Bei Brecht wird Galilei zum Beispiel für die Korrumpierbarkeit der Wissenschaften und zur Parabel eines Sündenfalls, der im 20. Jahrhundert entsetzliche Konsequenzen haben sollte. Andrea Sarti, Schüler des Galilei, besucht ihn zuletzt, enttäuscht, da er glaubt, der Lehrer habe seinen Thesen abgeschworen. Galilei präsentiert ihm die vollendeten »Discorsi« – und der Jüngere ist begeistert: »Sie versteckten die Wahrheit vor ihrem Feind. Auch auf dem Feld der Ethik waren Sie uns um Jahrhunderte voraus!« Galileo sieht das anders. Er habe es versäumt, Beispiel zu geben, sagt er, für die Wissenschaftler der Zukunft, die nicht nur Wissen anhäufen, sondern zum Wohle der Menschheit handeln sollten. »Wie es nun steht, ist das Höchste, das man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.«
Bogen durch die Zeit
David Liske ist es, der schauspielerisch den großen Bogen schlägt vom jungen, zuversichtlichen, aber eitlen Galileo hin zu jenem alten, von sich selbst enttäuschten Mann, der der Nachwelt seine Forschungen übergibt: eine frappierend gespielte Wandlung. Santiago Österle spielt den Andrea Sarti, Galileos Gegenüber in vielen Szenen, mit großer Einfühlung und viel Emotion. Dass Österle im Rollstuhl auftritt, gerät dabei in Vergessenheit.
Seit mehr als zehn Jahren gibt es an der Tonne ein inklusives Ensemble, stehen Menschen mit Behinderung gemeinsam mit ausgebildeten Schauspielern auf der Bühne. »Das Leben des Galilei« wurde auch dank einer Projektförderung des Landes eingeprobt mit einem Ensemble, in dem diese Trennung nicht mehr existiert. Darsteller mit und ohne Behinderung geben den Figuren um Galileo Gesicht und Ausdruck, agieren gemeinsam vorzüglich in einem ernsten, komplexen Stück.

Aaron Smith, Magdalena Flade, Magnus Pflüger und Rupert Hausner haben starke Auftritte in mehreren Rollen – aber auch Antje Rapp, Michael Schneider, Matthias Renner, Anne-Kathrin Killguss, Eugen Blum, Daniel Irschik, Elias Rauscher, Roswitha John, Bahattin Güngör, Alfhild Karle und Sophie Richter sind Mathematiker, Kardinäle, Inquisitoren, Sänger, Mönche, Ratsherren, Astronomen. Sie bilden einen schillernden Figurenkosmos, der hier tatsächlich um Galileo Galilei kreist, aus dem Szenen und Lieder hervortreten, die eine Zeit und ihr Weltbild erwecken und ihr Publikum nachdenklich zurücklassen. (GEA)

