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Wie Forscher die langen Flüsse erhalten wollen

Eine Studie zeigt, an dem auch ein Tübinger Wissenschaftler beteiligt war, dass nur noch wenige Gewässer nicht von Menschen reguliert sind. Für die Ökosystem sind frei fließende Flüsse lebensnotwendig.

Der Tagliamento in Friaul, Oberitalien, ist einer der letzten Wildflüsse Europas. Der Fluss ist rund 170 Kilometer lang.
Der Tagliamento in Friaul, Oberitalien, ist einer der letzten Wildflüsse Europas. Der Fluss ist rund 170 Kilometer lang. Foto: Gea
Der Tagliamento in Friaul, Oberitalien, ist einer der letzten Wildflüsse Europas. Der Fluss ist rund 170 Kilometer lang.
Foto: Gea

TÜBINGEN. Weniger als ein Viertel aller Flüsse weltweit fließt auf der gesamten Länge ungehindert durch Staudämme oder menschengemachte Regulierungen ins Meer. Unter den mehr als tausend Kilometer langen Flüssen kann nur rund ein Drittel dem von der Natur vorgegebenen Lauf folgen. Das ergab eine Studie eines internationalen Wissenschaftlerteams aus Mitgliedern der Naturschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) und von Forschungseinrichtungen. Ziel ist es, die letzten frei fließenden Flüsse der Erde zu erhalten. Dafür entwickelten sie ein neues Maß.

An der Studie waren Professorin Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen sowie auch Klement Tockner, langjähriger Direktor des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und Professor für aquatische Ökologie an der Freien Universität Berlin, beteiligt. Das teilt die Uni in einer Pressemitteilung mit.

Das Team bezog zwölf Millionen Flusskilometer weltweit in die Studie ein. Untersucht wurde vor allem jeweils die Vernetzung des Flusses mit seinem Überschwemmungsgebiet und dem Grundwasser sowie der Stoffaustausch mit den verbundenen Biotopen – die Forscher fassen diese Eigenschaften als »Konnektivität « zusammen. Diese kann als Maß gelten für den Zustand eines Flusses, der mit ihm verbundenen Ökosysteme und deren Artenvielfalt. Die Quantifizierung und Kartierung sollen außerdem als Grundlage für den Erhalt der letzten naturbelassenen Flüsse dienen und eine Priorisierung von Renaturierungsmaßnahmen unterstützen. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Ökosysteme mit Artenvielfalt

Frei fließende Flüsse lassen global die Ökosysteme mit der größten Artenvielfalt und Dynamik entstehen, vergleichbar tropischen Regenwäldern und Korallenriffen. Zugleich bieten Flüsse zum Beispiel für die Süßwassernutzung, Bewässerung in der Landwirtschaft, durch Fischfang und Energiegewinnung aus Wasserkraft wichtige Lebensgrundlagen für viele Millionen von Menschen.

So zählte das Wissenschaftlerteam in der neuen Studie allein rund 2,8 Millionen Dämme, hinter denen Reservoire von mindestens tausend Quadratmetern Wasserfläche entstanden sind, auf den zwölf Millionen untersuchten Flusskilometern. »Das führt zur Fragmentierung des Flusslaufs und hat teilweise schwerwiegende Auswirkungen auf das ganze Flusssystem«, sagt Christiane Zarfl. Durch die Weiterentwicklung der Infrastruktur für eine steigende Zahl von Menschen seien Flüsse und ihre Ökosysteme weltweit zunehmend bedroht.

Die Wissenschaftler entwickelten in ihrer Studie eine neue Methode, um den Zustand eines Flusses zu beurteilen. Zentrales Maß ist dabei die Konnektivität eines Flusses mit Bewertungen zum freien Wasserfluss, zu den Bewegungsmöglichkeiten von Organismen sowie zum Transport von Sedimenten, organischen Stoffen, Nährstoffen und Energie. In die umfassende Untersuchung gingen vier Dimensionen ein: in Fließrichtung, flussauf- und abwärts im Flussbett; über die Flussufer hinaus, zwischen dem Hauptbett des Flusses und der Aue; in vertikaler Richtung zwischen dem Grundwasser, dem Fluss und der Atmosphäre sowie in zeitlicher Abhängigkeit bedingt durch die Jahreszeiten.

3 700 neue Dämme geplant

Darüber beurteilte das Team aus Wissenschaftlern, welche Flüsse noch als frei fließend betrachtet werden können. »Heute sind sie weitgehend auf abgelegene Regionen wie die Arktis, das Amazonasbecken und das Kongobecken beschränkt«, sagt Christiane Zarfl. »In dicht bevölkerten Erdregionen wie Nordamerika, Europa und Südasien sind nur noch wenige sehr lange Flüsse frei fließend« – allen voran der Irrawaddy und der Saluen in Tibet, China und Myanmar.

2015 verabschiedeten zahlreiche Nationen beim UNO-Nachhaltigkeitsgipfel in New York Ziele, die auch den Schutz beziehungsweise die Wiederherstellung wassergebundener Ökosysteme vorsehen. Dennoch seien zurzeit mehr als 3 700 neue und große Dämme zur Wasserkraftnutzung in Planung, sagt die Wissenschaftlerin, zum Beispiel in den Balkanstaaten, im Amazonasgebiet, vor allem aber in Asien, in China und im Himalaja.

Außerdem seien etwa in Indien, China und Brasilien große Bewässerungsvorhaben geplant oder bereits im Bau, die das Ausbaggern von Flüssen, ihre Kanalisierung oder den Bau von Talsperren oder Dämmen erfordern. »Wir haben nun erstmals ein umfassendes Info-System mit hoher Auflösung angelegt. Es soll auch dazu dienen, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Ökosysteme und die Folgen künftiger Eingriffe deutlich zu machen«, erklärt Christiane Zarfl. Übergeordnetes Ziel sei die Erhaltung der letzten frei fließenden Flüsse der Erde. (u)

 

 

Amazonasgebiet Brasiliens: Gefluteter Auenregenwald am unregulierten Fluss Paranà do Mamori.  FOTOS: CHRISTIANE ZARFL
Amazonasgebiet Brasiliens: Gefluteter Auenregenwald am unregulierten Fluss Paranà do Mamori. FOTOS: CHRISTIANE ZARFL
Amazonasgebiet Brasiliens: Gefluteter Auenregenwald am unregulierten Fluss Paranà do Mamori. FOTOS: CHRISTIANE ZARFL