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Was Tübinger Forscher über die Evolution früher Säugetiere herausfanden

Wissenschaftler gewinnen anhand von Fossilien Einblick in die Evolution der frühen Säugetiere

Künstlerische Darstellung des Ökosystems im Geiseltal vor 47 Millionen Jahren mit dem kleinwüchsigen Urpferd Propalaeotherium li
Künstlerische Darstellung des Ökosystems im Geiseltal vor 47 Millionen Jahren mit dem kleinwüchsigen Urpferd Propalaeotherium links im Bild, dem frühen Tapir Lophiodon in der Mitte und einem jungen landlebenden Krokodil Bergisuchus im Hintergrund. ILLUSTRATION: MÁRTON SZABÓ Foto: Gea
Künstlerische Darstellung des Ökosystems im Geiseltal vor 47 Millionen Jahren mit dem kleinwüchsigen Urpferd Propalaeotherium links im Bild, dem frühen Tapir Lophiodon in der Mitte und einem jungen landlebenden Krokodil Bergisuchus im Hintergrund. ILLUSTRATION: MÁRTON SZABÓ
Foto: Gea

TÜBINGEN. Tübinger Forscher haben entdeckt, dass sich zwei frühe Säugetierarten vor 47 Millionen Jahren in gegensätzliche Richtungen entwickelt haben: Die Vorfahren der Pferde verringerten ihr durchschnittliches Körpergewicht innerhalb einer Million Jahre von 39 Kilogramm auf rund 26 Kilogramm. Tapire legten im gleichen Zeitraum durchschnittlich von rund 124 Kilogramm auf 223 Kilogramm zu. Das sind die Ergebnisse von Untersuchungen von Fossilien aus dem Geiseltal bei Halle, heißt es in der Pressemitteilung der Uni Tübingen.

Im früheren Braunkohleabbaugebiet im Geiseltal westlich von Merseburg in Sachsen-Anhalt wurde im vergangenen Jahrhundert eine riesige Zahl außergewöhnlich gut erhaltener Tierfossilien geborgen. Sie geben der Paläontologie einen einzigartigen Einblick in die Evolution der Säugetiere vor 47 Millionen Jahren. In dieser Zeit, dem Mittleren Eozän, war das Erdklima viel wärmer als heute und das Gebiet ein morastiger subtropischer Wald, zu dessen Bewohnern Urpferde, frühe Tapire, große landlebende Krokodile sowie Riesenschildkröten, Eidechsen und bodenlebende Vögel gehörten. Die Funde aus dem Geiseltal sind so zahlreich und umfassend, dass sie Forschern ein Bild der Evolutionsdynamik bis auf die Ebene von Tierpopulationen mit bisher unerreichter Detailgenauigkeit geben.

So groß wie ein Labrador

Ein Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Márton Rabi von der Uni Tübingen und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) hat entdeckt, dass die Körpergröße der beiden Säugetierarten sich in gegensätzliche Richtungen entwickelte. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht. »Am Anfang haben wir uns vor allem für die Evolution der Urpferde interessiert, die ungefähr die Größe eines Labradors hatten. Von ihnen gibt es besonders viele unter den Geiseltal-Fossilien«, sagt Rabi.

Die Forscher gingen zunächst davon aus, dass es dort mehrere Arten früher Pferde gegeben hat. »Wir stellten jedoch fest, dass es sich im Geiseltal nur um eine einzige Art handelt, deren Körpergröße mit der Zeit deutlich abnahm«, erklärt Rabi. Das Forschungsteam wollte wissen, ob diese Veränderung durch das Klima ausgelöst worden sein könnte, da frühere globale Warmphasen zu einer Reduktion der Körpergröße bei frühen Säugetieren geführt hatten.

Informationen über das lokale Klima im Mittleren Eozän des Geiseltals erhielten die Forscher über Kohlenstoff- und Sauerstoff-Isotopen-Untersuchungen an fossilen Zähnen. »Sie deuten auf ein feuchtes Tropenklima hin. Wir fanden jedoch keine Hinweise auf Klimaänderungen im Geiseltal im untersuchten Zeitraum«, sagt Hervé Bocherens vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment und der Uni Tübingen. Um ihre Ergebnisse zu erhärten, versuchte das Team herauszubekommen, ob der Schrumpfungsprozess nur bei Pferden auftrat. Zum Vergleich untersuchten sie die Evolution früher Tapire der Gattung Lophiodon. »Wir hatten Anhaltspunkte, die gleichbleibenden Klimadaten infrage zu stellen; daher erwarteten wir, dass andere Säugetiere die gleichen Trends bei der Entwicklung der Körpergröße zeigen würden wie die Pferde«, erklärt Simon Ring von der Uni Tübingen. Doch erstaunlicherweise wurden die Tapire größer, statt zu schrumpfen.

Vorteile der Lebensstrategien

»Alle Daten zur Körpergröße der Pferde und Tapire deuten darauf hin, dass sich die beiden Arten nicht wegen des Klimas, sondern wegen unterschiedlicher Lebenszyklen verschieden entwickelten«, erklärt Bocherens. Kleine Tiere pflanzen sich schneller fort und sterben jünger. Im Verhältnis zu ihrer Größe müssen sie nicht so viel Nahrung zu sich nehmen, um den Körper aufrechtzuerhalten. Sie können mehr Ressourcen in ihre Nachkommen stecken. Größere Tiere leben länger und haben niedrigere Fortpflanzungsraten. Sie brauchen mehr Nahrung und können weniger in die Fortpflanzung investieren – allerdings haben sie aufgrund ihrer Größe auch weniger Fressfeinde und können weitere Wege bei der Futtersuche bewältigen. Das erhöht ihre Lebenszeit und gibt ihnen mehr Zeit für die Aufzucht der Jungen. »Wahrscheinlich maximierten die Tapire und Pferde aus dem Geiseltal die Vorteile ihrer jeweiligen Lebensstrategien, was eine gegenläufige Evolution der Körpergröße zur Folge hatte«, sagt der Wissenschaftler. (em)

Außergewöhnlich gut erhaltene Skelette des frühen Tapirs Lophiodon (oben) und des Urpferdchens Propalaeotherium (unten) aus dem
Außergewöhnlich gut erhaltene Skelette des frühen Tapirs Lophiodon (oben) und des Urpferdchens Propalaeotherium (unten) aus dem Mittleren Eozän der Fundstätte Geiseltal (Sachsen-Anhalt). FOTO: OLIVER WINGS
Außergewöhnlich gut erhaltene Skelette des frühen Tapirs Lophiodon (oben) und des Urpferdchens Propalaeotherium (unten) aus dem Mittleren Eozän der Fundstätte Geiseltal (Sachsen-Anhalt). FOTO: OLIVER WINGS