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Uni Tübingen wirft Hirnforscher Birbaumer Datenfälschung vor

Eine Kommission der Universität Tübingen wirft dem renommierten Hirnforscher Niels Birbaumer wissenschaftliches Fehlverhalten vor.

Niels Birbaumer
Der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer zeigt ein Modell. Foto: Db Sascha Bühler/Uni_Tübingen/Archivbild
Der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer zeigt ein Modell. Foto: Db Sascha Bühler/Uni_Tübingen/Archivbild

TÜBINGEN. Der Bericht liegt vor, und er ist ziemlich vernichtend: Der Psychologe und Hirnforscher Niels Birbaumer, einer der renommiertesten Köpfe der Uni Tübingen, soll in einer im Frühjahr 2017 publizierten wissenschaftlichen Studie Daten gefälscht und Ergebnisse veröffentlicht haben, die nicht durch Daten gedeckt waren. Das bescheinigt die Kommission für wissenschaftliches Fehlverhalten der Uni in ihrem Abschlussbericht dem Professor und einem seiner Mitarbeiter. In der Kommission, deren Mitglieder immer für drei Jahre gewählt werden, sind Experten aus unterschiedlichen Bereichen vertreten, in diesem Fall aus den Bereichen Biologie, Literaturwissenschaft, Theologie, Chemie und Jura. Uni-Pressesprecher Karl G. Rijkhoek ist sich aber sicher, dass die Kommission »fachlich ausgezeichnet« beraten wurde. Birbaumer selbst war gestern für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Nach einer Mitteilung der Universität kam die Kommission nach der Überprüfung der im Fachmagazin PLOS Biology veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass Untersuchungsdaten in relevantem Umfang nicht ausgewertet beziehungsweise nicht berücksichtigt wurden. Die Kriterien für den Ausschluss dieser Daten seien von den Forschern nicht transparent gemacht worden. Darüber hinaus ließen sich die in der Studie publizierten Ergebnisse in vielen Fällen nicht auf das vorhandene Datenmaterial zurückführen.

Das Rektorat der Universität kündigte Konsequenzen an. Der übliche Weg ist nun, dass ein Verwaltungsverfahren eröffnet wird, die Beschuldigten zur Stellungnahme aufgefordert werden und dann entschieden wird. Ein Prozess, der nicht Monate dauern wird, sondern sehr schnell abgewickelt werden soll.

Eine Forschergruppe unter der Leitung Birbaumers hatte im Jahr 2014 Untersuchungen an insgesamt vier Patienten durchgeführt, die an fortgeschrittener Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt waren. Das ist eine neurodegenerative Erkrankung, die dazu führt, dass Betroffene schrittweise die Fähigkeit verlieren, ihre Muskulatur zu steuern. Im Endstadium sind Patienten vollständig gelähmt und nicht mehr in der Lage, sich mitzuteilen. Man spricht dann von einem »Completely Locked-In Status«.

Die Hirnforscher hatten in der Vergangenheit versucht, eine Technik zu entwickeln, um mit diesen Patienten wieder kommunizieren zu können. Dazu wurde die Hirnaktivität mithilfe von Infrarotspektroskopie und Elektroenzephalografie (EEG) gemessen. Die Wissenschaftler nahmen an, dass aus diesen Messdaten Rückschlüsse auf die Gedanken der Patienten möglich sind. Dass dies funktioniert habe, behaupteten sie in der Studie von 2017.

Der Tübinger Informatiker Martin Spüler, der in früheren Studien mit Birbaumer zusammengearbeitet hatte, überprüfte die Angaben der Studie, wobei er eigentlich nur ein Programm zur Datenauswertung testen wollte. Das Ergebnis allerdings machte ihn misstrauisch. Er rechnete nach und kam zum gleichen Ergebnis: Es gibt kein Ergebnis. Die Daten liefern keinen Beweis für eine Kommunikation mit den Gelähmten.

»Verfälschung von Daten durch Zurückweisung unerwünschter Ergebnisse«

Es gab weitere Zweifler, aber nur Spüler hatte den Mut, Birbaumer damit zu konfrontieren und, nachdem er damit keinen Erfolg hatte, seine Zweifel weiterzutragen. Er wandte sich an die Vertrauensleute der Medizinischen Fakultät. Diese untersuchten die Vorwürfe rund ein halbes Jahr intensiv und übergaben ihren Bericht am 22. November 2018 an die universitäre Kommission für Fehlverhalten in der Wissenschaft, die Anfang 2019 ein förmliches Verfahren einleitete. Dabei stieß sie auf eine Reihe von Verstößen gegen die gute wissenschaftliche Praxis.

Der erste Verstoß: selektive Datenauswahl bei der Datenerhebung. So wurden Datensätze bei der Auswertung nicht berücksichtigt ohne nachprüfbare Begründung. Vielmehr blieben Daten teils aufgrund von angeführten technischen Problemen bei der Erhebung, teils aufgrund persönlicher Entscheidungen des Seniorprofessors unberücksichtigt. Diese Praxis stellt nach Einschätzung der Kommission eine »Verfälschung von Daten durch Zurückweisen unerwünschter Ergebnisse ohne Offenlegung« dar. Das steht in Widerspruch zu Angaben, die beide Wissenschaftler in ihrem Fachartikel selbst gemacht haben.

Der zweite Verstoß: fehlende Offenlegung von Daten und Skripten. In ihrem Fachartikel haben die Wissenschaftler Internet-Links gesetzt, die den Leser zu verschiedenen Datensätzen führen sollen. Darunter fehlt jedoch das Skript, mit welchem einem Computerprogramm Vorgaben zur Auswertung der Daten gemacht wurden. Bis zum Abschluss der Untersuchung haben die beiden Wissenschaftler keinen vollständigen Datenbestand nachgewiesen. Die Kommission erkennt darin eine »Verfälschung von Daten durch Unterdrücken von relevanten Belegen«.

Der dritte Verstoß: fehlende Daten. Die Wissenschaftler haben nach eigener Darstellung die von ihnen entwickelte Technik einer Gehirn-Computer-Schnittstelle (BCI) bei insgesamt vier Patienten eingesetzt. Die Zahl der Tage, an denen BCI bei den einzelnen Patienten eingesetzt wurde, variiert nach den Angaben im genannten Fachartikel zwischen 6 und 17 Tagen pro Patient. Nach den Ermittlungen der Kommission stimmt die Anzahl der Tage, zu denen Daten vorliegen, mit der Anzahl der Tage, für die im Artikel Auswertungen dargestellt werden, in keinem Fall überein. Die Kommission schloss daraus, dass im Artikel Ergebnisse dargestellt wurden, zu denen keine Daten vorliegen.

Der vierte Verstoß: mögliche Datenverfälschung durch fehlerhafte Analyse. Die beim Einsatz am Patienten mittels BCI erzeugten Rohdaten sind von den Wissenschaftlern mithilfe elektronischer Datenverarbeitung analysiert worden. Wesentliche Software-Komponenten der eingesetzten EDV-Systeme wurden von den Wissenschaftlern gegenüber der Kommission nicht offengelegt, sodass eine Beurteilung der eingesetzten Methoden nicht möglich war. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass ein ehemaliger Mitarbeiter Birbaumer bereits im November 2015 darauf hingewiesen hatte, dass sich aus den Daten in statistisch korrekter Auswertung keine signifikanten Ergebnisse belegen lassen. Diese Informationen legen nach Ansicht der Kommission nahe, dass eine Datenverfälschung stattfand.

Die Kommission hat dem Rektorat der Uni Tübingen eine Reihe von Konsequenzen vorgeschlagen. So sollen die beiden Wissenschaftler ihre umstrittene Studie zurückziehen. Zudem sollten alle Publikationen, an denen die beiden Wissenschaftler seit 2014 mitgewirkt haben, nachträglich von externen Gutachtern überprüft werden. Darüber hinaus forderte die Kommission das Rektorat auf, den Status Birbaumers als Seniorprofessor zu überprüfen. Zudem wird angeregt, eine Anlaufstelle für die betroffenen Patienten und ihre Angehörigen zu schaffen. Das will die Uni zügig schaffen. (GEA/u)