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Aktuell Kinderbetreuung

Tübingen zieht positive Bilanz zu Quereinsteigern

In der Kinderbetreuung fehlen Fachkräfte. Ende 2023 erhielten daher die Träger von Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg die Möglichkeit, von den gesetzlichen Regelungen abzuweichen. Etwa mit Quereinsteigern. Die Unistadt nutzte diese Möglichkeit - und zieht nun eine erste Bilanz.

An Spielmöglichkeiten mangelt es in den Kindertageseinrichtungen nicht - stattdessen stellt sich häufig die Personalfrage.
An Spielmöglichkeiten mangelt es in den Kindertageseinrichtungen nicht - stattdessen stellt sich häufig die Personalfrage. Foto: Uwe Anspach/dpa
An Spielmöglichkeiten mangelt es in den Kindertageseinrichtungen nicht - stattdessen stellt sich häufig die Personalfrage.
Foto: Uwe Anspach/dpa

TÜBINGEN. Quereinsteiger in der Kinderbetreuung? Bei vielen Eltern dürfte dieser Vorschlag der Landesregierung auf Skepsis gestoßen sein. Und auch bei den Erzieherinnen und Pädagogen waren die Sorgen groß, wurde eine Verdrängung von Fachkräften durch geringer qualifiziertes - und damit günstigeres - Personal befürchtet. Dennoch wurde der »Erprobungsparagraf« im Dezember 2023 in Kraft gesetzt - wonach Träger von Kindertageseinrichtungen von gesetzlichen Regelungen und Standards in der Kinderbetreuung abzuweichen dürfen, um neue Wege zu gehen und die Betreuungsangebote zu stabilisieren.

Um eben jene Stabilisierung ging es auch der Stadt Tübingen. »Wir konnten damals in vielen Einrichtungen die Öffnungszeiten nicht gewährleisten«, blickt Sozialbürgermeisterin Dr. Gundula Schäfer-Vogel zurück. Die Unistadt sei daher »sofort interessiert« gewesen, die neuen Möglichkeiten umzusetzen. »Diese geben den Kommunen die nötige Beinfreiheit und schaffen Raum für kreative Lösungen.« Mitnichten ging es der Verwaltung dabei um das Einsparen von Personalkosten - aufgrund des Fachkräftemangels fehlte es schlichtweg an Personal. Und: der Einsatz von Quereinsteigern sollte Fachkräfte nicht ersetzen, sondern die vorhandenen Erzieherinnen und Pädagoginnen entlasten, sowie kurzfristige Ausfälle kompensieren.

Aus 30-Prozent-Lücke wird eine 90-Prozent-Stelle

Nun zog die Stadtverwaltung eine erste Bilanz. In der Kindervilla in der Alexanderstraße, wo neben Einrichtungsleiterin Barbara Weiß auch die Betreuungskraft Nada Gzaa und deren Anleiterin Antonia Jehle das Tübinger Modell vorstellten. In der Kindervilla gibt es sechs Gruppen für Kinder unter drei Jahren. In einer dieser Gruppen gibt es 250 Prozent Planstellen für Fachkräfte. 220 sind auch mit den qualifizierten Mitarbeiterinnen besetzt. 30 Prozent besetzt Nada Gzaa, die als Quereinsteigerin in der Kita angefangen hat. »Sie hat aber eine 90-Prozent-Stelle«, betont Weiß. Für das ganze Team bedeutet Gzaa also eine spürbare Entlastung. In einer zweiten Gruppe hat die Quereinsteigerin, Betreuungskraft genannt, einen Fachkräfte-Stellenanteil von 20 Prozent. »Eine 20-Prozent-Stelle mit einer fünf Tage Woche hätte ich nie besetzt bekommen«, sagt Einrichtungsleiterin Weiß.

Sie spricht daher von einem »totalen Glücksfall«. Zumal beide Betreuungskräfte in der Kindervilla einen hohen Stellenanteil haben. »Dadurch haben wir eine gute gemeinsame Basis, sie arbeiten lange mit uns und nicht nur dann, wenn Fachkräfte fehlen.« Dementsprechend sei auch die Einarbeitung gelungen, auch wenn es zu Beginn durchaus Probleme gab. »Ich wusste zunächst nicht genau, was ich darf und was ich nicht darf«, schildert Gzaa. Die junge Mutter stammt aus dem Irak und lebt seit acht Jahren in Deutschland. Als Betreuungskraft hat sie nun einen sicheren Job - nach Tarif bezahlt, spürbar oberhalb des Mindestlohns. »Ich habe viel von den Kollegen gelernt und kann jetzt auch Verantwortung übernehmen«, sagt Gzaa stolz. Zu lernen gab es einiges. Anleiterin Antonia Jehle nennt als Beispiel die körperliche Autonomie der Kinder. »So nehmen wir Kinder nicht einfach hoch auf den Schoss«, sagt Jehle.

Elternarbeit bleibt bei den Fachkräften

Den meisten Kindern und Eltern dürften die Unterschiede zwischen Fach- und Betreuungskräften auf den ersten Blick nicht auffallen. Bei den Fachkräften bleiben vor allem die komplexeren Aufgaben: Elterngespräche, die Dokumentation der Bildungsbiografie der Kinder oder auch die Antragstellung bei Inklusionsleistungen. Doch auch die Betreuungskräfte dürfen sich weiterbilden: der Fortbildungsverbund des Landkreises bietet achteinhalb Fortbildungstage für die Quereinsteiger an, ein Kontingent von zehn Plätzen hierbei bekommt die Stadt Tübingen jährlich. Und einige Betreuungskräfte haben über den »Direkteinstieg Kita« auch die Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentinnen begonnen, eine Weiterqualifizierung zur Erzieherin ist ebenfalls möglich.

In Tübingen sind die Betreuungskräfte inzwischen aus der städtischen Kita-Landschaft nicht mehr wegzudenken. 74 Betreuungskräfte gibt es, sie teilen sich 40 Stellen. »Wir sparen mit ihnen keine Stellen ein, sondern beheben einen Mangel«, betont Bürgermeisterin Schäfer-Vogel. Krankheitsausfälle, Fluktuationen durch Schwangerschaften oder Jobwechsel - all dies kann durch die Betreuungskräfte ausgeglichen werden. »Wo früher eine Fachkraft allein übrig geblieben wäre und die Gruppe hätte ausfallen müssen, springt jetzt die Betreuungskraft in die Bresche.«

Quereinsteiger bisher nur in städtischen Einrichtungen

Interessant ist dabei: bislang setzen nur städtische Einrichtugen Quereinsteiger ein, bei kirchlichen oder privaten Trägern gibt es diese bisher nicht. »Kleine Einrichtungen haben es bei der Suche nach Fachkräften meist einfacher, weil sie individueller auf deren Bedürfnisse eingehen können«, nennt Schäfer-Vogel eine mögliche Erklärung. Die Stadtverwaltung ist mit dem Modell jedenfalls zufrieden. Ihr »Fernziel« sei, die Öffnungszeiten weiter auszudehnen, sagt die Sozialbürgermeisterin. Nur so könne das Berufsleben der Eltern mit den Bildungschancen der Kinder vereinbart werden, was »volkswirtschaftlich essentiell« sei. Wichtig sei, allen Kindern dieselben Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. »Bildungsbiografien sind entscheidend für die Zukunftschancen. Wir müssen verhindern, dass Kinder wegen unserer Standards hinten runter fallen.« (GEA)