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Aktuell Pandemie

Tübinger Mediziner: freiwillige Corona-Quarantäne ist »sinnlos«

Erst hü, dann hott: Der Gesundheitsminister vollzieht bei einer zentralen Frage des Pandemie-Kurses eine plötzliche Kehrtwende. Der Leiter der Krankenhaushygiene der Uniklinik Tübingen hält diese Entscheidung für richtig. Er würde sich auch noch eine andere Maßnahme zurückwünschen.

Quarantäne
Ordner mit der Aufschrift »Quarantäne-Ende« stehen in einem Gesundheitsamt. Foto: Marijan Murat/dpa
Ordner mit der Aufschrift »Quarantäne-Ende« stehen in einem Gesundheitsamt. Foto: Marijan Murat/dpa

TÜBINGEN. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach verkündete überraschend in einer nächtlichen Talkshow, eine geplante Umstellung der Isolation von Infizierten auf Freiwilligkeit direkt wieder einzukassieren. Am Mittwoch nahm er den »Fehler« ausdrücklich auf die eigene Kappe. Von Ländern und Opposition kam heftige Kritik am generellen Vorgehen des Ministers. Die Gesundheitsämter sollen eine Isolation nun doch weiter anordnen, nur Quarantäne für Kontaktpersonen Infizierter nicht mehr. 

Auch Dr. Jan Liese, Leiter der Sektion Krankenhaushygiene und der Infektionsprävention an der Uniklinik Tübingen, gehörte zu den Kritikern. »Für mich passt das nicht zusammen, wenn man sich das aktuelle Infektionsgeschehen anschaut.« Zuletzt gab es laut Robert-Koch-Institut binnen eines Tages 214.985 Neuinfektionen, die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz sank auf 1322,2. »Die Werte sind immer noch sehr hoch. Aus infektiologischer Sicht ist es sinnlos, dass man nun diese Maßnahme streicht«, sagte er noch am Mittwoch nachdem die Ankündigung kam, die Corona-Quarantäne solle ab 1. Mai nur noch freiwillig sei.

Nächtlicher Rückzieher von Lauterbach im ZDF

Lauterbach räumte ein, der Plan zur Beendigung der Isolationspflicht sei »ein klarer Fehler« gewesen. Er sei dafür »auch persönlich verantwortlich«. Die Reaktionen darauf hätten ihn davon überzeugt, dass dies »psychologisch das falsche Signal« senden und als Schritt der Lockerung verstanden würde. »Das wäre völlig falsch und würde die Pandemie verharmlosen«, sagte er. »Ich habe den Vorschlag daher zurückgezogen.« Noch am Dienstagnachmittag hatte Lauterbach die Umstellung verteidigt. Sie solle allein dazu dienen, Gesundheitsämter von der Nachverfolgung der gerade hohen Fallzahlen zu entlasten. Doch die Kritik daran wollte nicht mehr verhallen.

Rund zehn Stunden später, spätabends in der ZDF-Talkshow von Markus Lanz, ruderte Lauterbach dann überraschend zurück. Das Signal einer freiwilligen Isolation sei »so negativ, so verheerend«, dass es eine Veränderung geben müsse. Um 2.37 Uhr legte der Minister dann auch per Twitter nach: »Hier habe ich einen Fehler gemacht. Das entlastet zwar die Gesundheitsämter. Aber das Signal ist falsch und schädlich.« Er habe es nicht laufen lassen, sondern so schnell wie möglich beenden wollen, erläuterte der Minister seine nächtliche Aktivität später. Wenn man sehe, dass Vorschläge nicht funktionierten, müsse man sie zurücknehmen und nicht stur dabei bleiben.

Tübinger Mediziner hätte Maskenpflicht beibehalten

Die bisher veranschlagten zehn Tage für eine Quarantäne, aus der man sich nach sieben Tagen freitesten kann, ist aus Sicht des Tübinger Mediziners Liese nachwievor sinnvoll, auch wenn die Dauer der Infektiosität je nach Viruslast in jedem Einzelfall unterschiedlich sein kann. »Aber mit zehn Tagen ist man auf der sicheren Seite.« Auf dieser wäre man mit einer weiteren Maßnahme: der Maskenpflicht. »Verwundert« ist der Mikrobiologe, dass diese gestrichen worden ist. »Die Masken schützen effektiv vor einer Infektion. Das ist inzwischen sehr gut belegt. Die Masken kosten nicht viel und diese zu tragen, verlangt den Menschen nicht viel ab.« Seit Sonntag ist die Maskenpflicht in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens Geschichte. Das betrifft etwa Stadien, Restaurants, Kultureinrichtungen, Diskotheken, Einzelhandel und Supermärkte. 

Auch Kontaktbeschränkungen und Zugangsbeschränkungen gibt es seit Sonntag nicht mehr. Liese ist der Meinung, dass man durch die nicht mehr vorhandenen Maßnahmen diejenigen »im Stich lässt«, die sich nicht impfen lassen können, etwa Kinder unter fünf Jahren oder Menschen mit Vorerkrankungen. Leidtragende der nicht mehr vorhandenen Maßnahmen seien aus seiner Sicht auch die Patienten in den Kliniken. »Es fällt immer mehr Personal aus, das sich infiziert hat. Deswegen müssen Operationen und Behandlungen verschoben werden.«

Wie sich die Infektionszahlen mit den nun weggefallenen Maßnahmen entwickeln, wagt Liese nicht vorherzusagen. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich erwarten soll. Es wurden oft Prognosen gemacht, doch meistens ist es anders gekommen.« (GEA/dpa)