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Streit über Cannabis schon vor 250 Jahren

Tübinger Historikerin rekonstruiert Legalisierungsdiskurs von Wissenschaft und Kirche im 18. Jahrhundert

Jacobus Tabernaemontanus: Neuw vollkommentlich Kreuterbuch. Erstausgabe 1588.  FOTO: UNI TÜBINGEN
Jacobus Tabernaemontanus: Neuw vollkommentlich Kreuterbuch. Erstausgabe 1588. FOTO: UNI TÜBINGEN
Jacobus Tabernaemontanus: Neuw vollkommentlich Kreuterbuch. Erstausgabe 1588. FOTO: UNI TÜBINGEN

TÜBINGEN. Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob Cannabis zu medizinischen Zwecken legalisiert werden soll. Wie alt diese Debatte tatsächlich ist, damit beschäftigt sich die Tübinger Historikerin Laura Dierksmeier in ihrer Dissertation.

Bereits im Mexiko des 18. Jahrhunderts warb der Priester und Wissenschaftler José Antonio Alzate y Ramírez für die heilende Wirkung der umstrittenen Pflanze – und legte sich dabei mit der spanischen Kolonialmacht und der Inquisition an. Dierksmeier vom Sonderforschungsbereich RessourcenKulturen an der Uni Tübingen untersucht die damalige öffentliche Auseinandersetzung dazu in Mexiko. Ihre Studie »Forbidden herbs: Alzate’s defense of ›pipiltzintzintlis‹« wurde im Journal Colonial Latin American Review veröffentlicht.

In einem Zeitungsartikel von 1772 verteidigte Alzate Cannabis, das er unter dem Namen »Pipiltzintzintlis« aus eigenem Anbau kannte: Er schrieb ihm einen wertvollen Nutzen für die Behandlung von Husten, Gelbsucht, Tinnitus, Tumoren, Depressionen und vielem mehr zu.

Gegen christliche Grundsätze

Die Spanische Inquisition betrachtete das Halluzinogen hingegen als ein Mittel, um mit dem Teufel in Verbindung zu treten, und hatte es daher verboten, genauso wie viele andere psychoaktive Pflanzen oder Verhaltensweisen, die christlichen Grundsätzen angeblich widersprachen.

»Alzates öffentliche Verteidigung zeigt allgemeine Streitfragen der mexikanischen Gesellschaft«, bewertet Laura Dierksmeier die Rolle des unbequemen Geistlichen. »Er war ein unermüdlicher Vermittler zwischen kirchlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft, zwischen der spanischen Inquisition und seinen eigenen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit sowie zwischen indigenem und europäischem Wissen. Alzates Methoden waren europäisch und typisch für die Aufklärung, seine Mission und sein Fokus aber waren spezifisch lateinamerikanisch: Er war stolz auf die natürliche Umgebung Mexikos und förderte die Verwendung einheimischer Kräuter, auch wenn dies bedeutete, sie vor dem Verbot der Kirche zu verteidigen.«

Laura Dierksmeier schrieb ihre Dissertation zu einheimischen und missionarischen Bräuchen im frühneuzeitlichen Mexiko.   FOTO: U
Laura Dierksmeier schrieb ihre Dissertation zu einheimischen und missionarischen Bräuchen im frühneuzeitlichen Mexiko. FOTO: UNI TÜBINGEN
Laura Dierksmeier schrieb ihre Dissertation zu einheimischen und missionarischen Bräuchen im frühneuzeitlichen Mexiko. FOTO: UNI TÜBINGEN

Das Beispiel zeige, dass die Legalisierung von Marihuana schon sehr lange ein kontroverses Thema sei. »Die Erkenntnisse der Studie können helfen, die gegenwärtige Legalisierungs-Debatte zu bereichern oder zumindest die verhärteten Fronten aufzubrechen«, sagt Dierksmeier. »Denn laut Alzate und den von ihm zitierten Wissenschaftlern überwiegt der Nutzen der Hanfpflanze als Baustoff oder Medizinpflanze die möglichen Nebenwirkungen. Oder, wie José Antonio Alzate y Ramírez selbst sagte: ›Ich glaube, ich habe die Vorteile der Nutzung von Pipilzitzintlis demonstriert, und wie wir in der Sprache der Theologen sagen: Es ist schlecht, weil es verboten ist, nicht verboten, weil es schlecht ist.‹« (u)