STUTTGART/TÜBINGEN. Die Kritik am Ausschlussverfahren der Grünen gegen den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer nimmt in der Partei zu. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält das Verfahren für einen Fehler und brachte eine neue Abstimmung bei einem Grünen-Landesparteitag ins Gespräch. »Wir haben einen Parteitagsbeschluss zu diesem Ausschlussverfahren, das hat der Palmer selber befürwortet. Das Problem kann nur ein Parteitag lösen«, sagte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart.
Er bekräftigte seine Kritik an dem Verfahren: »Das ist nicht der Weisheit letzter Schluss.« Intern wird bei den Grünen befürchtet, dass Palmer als unabhängiger Kandidat die OB-Wahl in Tübingen im Herbst gewinnt und die Partei damit blamiert. Kretschmann hatte dem »Südkurier« gesagt: »Wer soll am Ende was dabei gewinnen? Die Frage muss man sich doch stellen.«
Nach Hängepartie: Über Rauswurf wird womöglich ab März verhandelt
Ein Landesparteitag hatte Anfang Mai 2021 mit Dreiviertel-Mehrheit beschlossen, ein Ordnungsverfahren gegen den wegen seiner Provokationen umstrittenen Rathauschef anzustrengen. Der nächste Landesparteitag sei für Ende September geplant, sagte eine Grünen-Sprecherin der dpa. Theoretisch gibt es auch die Möglichkeit eines Sonderparteitags - zum Beispiel auf Verlangen von mindestens einem Fünftel der Kreisverbände oder von 10 Prozent der Mitglieder.
Der 49-jährige Palmer will wegen des laufenden Verfahrens ohne die Unterstützung der Grünen bei der OB-Wahl antreten. Das Landesschiedsgericht wird womöglich im März offiziell beginnen, über den Rauswurf Palmers zu verhandeln. Sein Anwalt Rezzo Schlauch erwägt aber noch, die Frist für seine Antwort auf den Ausschlussantrag des Landesvorstands zu verlängern. Schließlich habe der Landesvorstand neun Monate gebraucht, um ihm den Antrag offiziell zu überstellen. Aus der Grünen-Spitze hieß es, Schlauch habe den Antrag schon Mitte November bekommen.
»Er ist für mich immer noch Boris«
Nach Kretschmann äußerte sich auch der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer skeptisch zu dem Verfahren - beide sind wie Palmer vom Realo-Flügel. »Es ist ja offenkundig, dass Omid Nouripour, unser Vorsitzender, Recht hat, wenn er die ganze Angelegenheit als misslich bezeichnet«, sagte der frühere Grünen-Landeschef der dpa. »Ich weiß nicht, wie man sich eine OB-Wahl in Tübingen vorstellen soll unter dem Schatten dieses Verfahrens.« Nouripour hatte am Sonntag der ARD gesagt: »Das ist eine missliche Angelegenheit, die aber jetzt in einem laufenden Verfahren ist in Baden-Württemberg.« Er werde mit Palmer das Gespräch suchen. »Ich werde ihn fragen, was ihn eigentlich antreibt.« Er sagte auch: »Er ist für mich immer noch der Boris.«
Neue Töne aus der Grünen-Landesspitze
Nach Kretschmanns Kritik an dem Verfahren äußerte sich die Grünen-Landesspitze zurückhaltend. »Es gibt momentan in unserer Partei als auch in den Medien viele Diskussionen darüber, was eine Partei aushalten muss. Diese Diskussionen sind wichtig, denn sie zeigen, dass wir als Partei keine homogene Masse sind«, sagte eine Sprecherin. Umso wichtiger sei es, dass das schiedsgerichtliche Verfahren voranschreite. »Denn mit genau dieser Frage wird sich das Schiedsgericht beschäftigen und entscheiden, ob ein Parteiausschluss gerechtfertigt ist.« Seit dem Wechsel an der Spitze im Dezember hat sich auch der Ton in der Auseinandersetzung um Palmer geändert. Die neuen Landeschefs Lena Schwelling und Pascal Haggenmüller halten sich eher zurück.
Dagegen hatten die ehemaligen Landeschefs Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand Mitte November bei der Vorlage der Antragsschrift erklärt: »Wir haben es mit einer jahrelangen Vorgeschichte und einer langen Liste von kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen zu tun. Boris Palmer nutzt vor allem die Themen der Einwanderungs-, Flüchtlings-, und Menschenrechtspolitik dazu, sich Äußerung um Äußerung weiter von der Linie unserer Partei zu entfernen.« Und weiter: »Für jemanden, der mit Rassismus kokettiert und Ressentiments schürt, ist bei uns kein Platz.«
Unterstützer von Palmer formieren sich
Vor allem bei den Parteilinken hat Palmer viele Gegner. Aber auch die Unterstützer formieren sich und verweisen auf seine Leistungen als Klimaschützer in der Unistadt. Eine Gruppe aus dem Tübinger Kreisverband hat seit Mitte Dezember über 600 Unterschriften für Palmer gesammelt, die meisten Unterstützer stammen aus dem Grünen-Landesverband Baden-Württemberg. Es gibt aber auch eine Liste einer überparteilichen Wählerinitiative in Tübingen, die schon 1000 Unterschriften für den Rathauschef gesammelt hat.
© dpa-infocom, dpa:220201-99-928740/3