HECHINGEN. In seiner Begrüßung beim Kreisbauerntag der Verbände Tübingen und Zollernalb blickte Jörg Kautt, Vorsitzender der Kreisbauernschaft Tübingen, auf den Beginn der Proteste fast genau vor einem Jahr zurück: »Wir Bäuerinnen und Bauern haben eine Zustimmung in der Bevölkerung erfahren, wie schon lange nicht mehr.« Ab dem 8. Januar 2024 hatten sich die Landwirte Gehör verschafft. Ihnen ging es vor allem um den Abbau von Regulierungen und der Bürokratie, die einen guten Teil der Arbeitszeit blockiere.
Auf europäischer Ebene seien »Politiker wachgerüttelt« worden, stellte Kautt fest. Ihn freute, dass sich die EU zuletzt ablehnend gegenüber Restriktionen im Pflanzenschutz positionierte. Kautt setzt auf den neuen EU-Agrarkommissar Christophe Hansen aus Luxemburg: »Es besteht die Hoffnung, dass nun mit Sachverstand, nicht mit Ideologie Politik gemacht wird.«
EU-Agrar-Politiker wachgerüttelt
Der Bundesregierung stellte Kautt schlechtere Noten aus: In Bezug auf einen Bürokratie-Abbau sei es beim Versprechen geblieben. Zwischen 2017 und dem dritten Quartal 2024 seien 174 bundesrechtliche Vorgaben für den Wirtschaftszweig Land- und Forstwirtschaft, samt Fischerei, neu erlassen, lediglich 17 alte abgeschafft worden.
Zu Beginn seiner Rede betonte Kautt: »Wir als Bauernverband sind politisch neutral.« Rechte und rechtsextreme Gruppierungen hatten versucht, sich den Bauernprotesten anzuschließen und ihre Parolen über diese öffentliche Plattform zu verbreiten.
Landrat Walter kritisierte Abkommen mit Mercosur-Staaten
In seinem Grußwort kritisierte Tübingens Landrat Joachim Walter das Handelsabkommen der EU mit ihrem Pendant Mercosur, einem Markt- und Wirtschaftsbündnis südamerikanischer Staaten. Man wisse wenig über die dortigen Produktionsbedingungen. Während der BSE-Krise Anfang der 2000er Jahre (Stichwort: Rinderwahn) habe man Rindfleisch aus Südamerika importiert, das nicht auf diese Krankheit getestet worden sei.
Der Tübinger Landrat warb stattdessen um das Vertrauen für den hiesigen Fleisch-Händler vor der Haustür und verwies auf die Betriebe im Kreis, die mit gläserner Produktion arbeiten, und so alle ihre Arbeitsschritte nachvollziehbar machen. Kautt bedauerte, dass Walter in diesem Sommer sein Amt abgibt und dankte dem scheidenden Landrat herzlich für sein Engagement für den Bauernstand.
SPD beim Bauerntag: Wie VfB-Fan im KSC-Fanblock
Hechingens Bürgermeister Philipp Hahn (CDU) lobte die Bauern für ihren Sachverstand und das Durchhaltevermögen während der Proteste: »Sie brauchen klare Wertschätzung. Sie müssen in den Parlamenten gehört werden.« Die SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Kliche-Behnke gab zu: »Ihre Proteste beim Parteitag der SPD letztes Jahr – das geht mir immer noch nach.«
Sie erinnerte daran, dass es ein Landwirt war, der an jenem Tag bei einem medizinischen Notfall als Ersthelfer zur Stelle war. »In so einem Fall rücken politische Gegensätze nach hinten. Demokraten verbindet mehr als sie trennt.« Auch wenn sie zur Erheiterung der Anwesenden zugab, der Bauerntag sei kein Heimspiel für ihre Partei: »Es fühlt sich an, wie im VfB-Trikot in der KSC-Fankurve zu stehen.«
Joachim Steyer, Landtagsabgeordneter der AfD für den Wahlkreis Hechingen-Münsingen, sagte, die Lautstärke der Proteste seien nicht für jedermann nachvollziehbar gewesen. Die Wut über die Streichung der Subventionen für den Agrardiesel sei ein Grund gewesen, warum seine Partei die Bauern unterstützt hatte. Die Bundestagskandidaten Ali Kücük (Grüne) und Christoph Naser (CDU), beide hielten eine Rede, und Florian Zarnetta von der SPD stellten sich den Bauern vor.
Krisam fordert mehr Regularien für Social Media
Anschließend referierte Guido Krisam, Chefredakteur des 1835 gegründeten Fachblatts BW Agrar, darüber, wie sich der Wandel der Medien auf die Meinungsbildung von Landwirten und Verbrauchern auswirkt: »Die Medien sind interaktiver geworden.« Die Möglichkeit, sich direkt zu beteiligen, habe Diskussionen verschärft: »Das machen sich oft Menschen zunutze, die erst nochmals nachdenken müssten.«
Der Mensch konsumiere so viele Informationen wie nie zuvor – sei dadurch aber nicht schlauer geworden. Für den Bereich Social Media forderte Krisam mehr Regularien. Er räumte ein: »Ein Kompromiss in der Mitte ist kein reichweitenstarkes Thema.« Krisam warnte, Fake News hätten immer größeren Einfluss, führten zur Polarisierung und schwächten die Demokratie.
So hätten sich die Diskussionen während den Bauernprotesten letztes Jahr immer weniger um echte Tierschutzthemen gedreht, stattdessen seien sie »immer krasser in die Verschwörungsecke abgerutscht.« Krisam kritisierte unter anderem die Sprache einer Internet-Bloggerin, die Schlachthöfe mit Konzentrationslagern verglichen habe. Er folgerte: »Wir müssen als Branche sensibler werden.« Zudem forderte Krisam, die Medienkompetenz müsse in der gesamten Gesellschaft gestärkt werden. (GEA)