TÜBINGEN. Rund 1 000 Zuhörer, ein Thema im Mittelpunkt. In seiner Neujahrsrede widmete sich OB Boris Palmer ausführlich dem Vorhaben, die Unistadt bis 2030 klimaneutral zu machen (wir berichteten), griff aber auch andere Themen auf. Abgeschoben. Nach sieben Jahren in Deutschland wurde Bilal Waqas nach Pakistan abgeschoben. Obwohl er Arbeit hatte und mit einer Deutschen verheiratet ist. LTT-Mitarbeiter und Hilfsorganisationen haben dagegen demonstriert. Palmer erneuerte seine Forderung nach einem »Spurwechsel« im Ausländerrecht. Nach so langer Zeit müssten Menschen wie Waqas als Eingewanderte behandelt werden. Die Beamten hätten bei geltender Rechtslage allerdings keinen Spielraum gehabt. Das Verwaltungsgericht habe dies bestätigt.
Ja und nein. Der Verkauf eines Grundstücks an Amazon wurde 2019 von heftigen Diskussionen begleitet. Zum ersten Mal musste die Polizei im Rathaus sicherstellen, dass Beratung und Abstimmung geordnet über die Bühne gehen konnten. Palmer: »Am Ende hat eine Mehrheit ganz nüchtern gesagt: ›Amazon selbst können wir im Gemeinderat nicht ändern, aber für Tübingen und das Cyber Valley ist das KI-Forschungszentrum ein Gewinn, also stimmen wir zu.‹« Ob dafür oder dagegen – beide Haltungen seien zu respektieren. »Ich finde, man kann auf diesen Gemeinderat und seine Diskussionskultur sehr stolz sein, egal ob man selbst für oder gegen Amazon gestimmt hätte.«
Passend gekleidet. Gerne zeigt sich der 47-Jährige im blauen Anzug, passend zur Klima-Kampagne »Tübingen macht blau«. Palmer weiß, dass dies manchen spöttischen Kommentar provoziert. Erst kürzlich habe er gehört: »Wenn das mal modern wird, dann haben Sie den schon.«
Einfaches Rezept. Tübingen will bis 2030 klimaneutral werden. Wie das geht? Palmer: »Wir wissen sehr genau, was zu tun ist, und es wäre ganz einfach. Wir müssen nur damit aufhören, Kohle, Öl und Erdgas zu verbrennen. Technisch geht das problemlos.« Die praktische Umsetzung wird schwieriger.
1 000 Wege. Den einen richtigen Weg gibt es nicht, sagt der OB. »Es gibt viele tausend Möglichkeiten, das Klima zu schützen, und entsprechend viele Wege für eine Stadt, es zu tun. Wir können also über jede einzelne Maßnahme streiten, sie verändern oder auch durch eine andere austauschen. Nichts ist festgelegt.«
Nur als Briefmarke. Tübingen ist von der Liste der Städte mit den höchsten Feinstaubwerten verschwunden. Alle Grenzwerte wurden eingehalten. Das Regierungspräsidium braucht nicht mehr über Zwangsmaßnahmen nachzudenken. Die zeitweise Sperrung der Mühlstraße für Autos hat dazu beigetragen, sagt Palmer und ärgert sich trotzdem: Den Zeitungen sei das nur eine Meldung in Briefmarkengröße wert gewesen.
Schlange bis Sigmaringen. Ganz Tübingen produziert jährlich rund eine halbe Million Tonnen CO2. Umgerechnet heißt das laut Palmer: »Wir verbrennen jedes Jahr 135 000 Tonnen Heizöl. Das ist eine Menge, die in rund 5 000 Tanklastzügen transportiert werden müsste – eine durchgehende Tanklastzug-Schlange von hier bis Sigmaringen.«
Wenn solar zur Pflicht wird. Tübingen war die erste Stadt, die Solarpflicht bei neuen Bauvorhaben vorgeschrieben hat. Im neuen Viertel beim Güterbahnhof wurde das konsequent umgesetzt. »Es hat nicht einen Beschwerdebrief gegeben«, berichtet der OB. Bisher kommen in Tübingen drei Prozent der Stromproduktion aus Sonnenkraft. Der Anteil ließe sich nach seinen Berechnungen verzwanzigfachen, wenn auf allen geeigneten Dächern Fotovoltaik installiert würde.
Nicht autofrei. Palmer weiß, dass viele Maßnahmen sehr umstritten sein werden – der heftigste Streit drohe beim Verkehr. Die »autofreie Stadt« hält er nicht für realistisch, würde aber gerne 15 000 Privatautos durch 1 000 elektronische Carsharing-Fahrzeuge ersetzen. Windräder im Rammert und am Schönbuchrand? Hundert Hektar Solar-Anlagen an den Rändern der Stadt, um Heizwärme zu gewinnen? Viele würden diese Veränderung in der Landschaft nur schwer ertragen.
Schnell zupacken. Die Neckarbrücke müsste abgerissen werden und neu gebaut. Die Mühlstraße bliebe ein Nadelöhr mit wenig Raum für Fußgänger, Radler und die Bahntrasse: Ob die Stadtbahn in Tübingen durch die Innenstadt führen soll, ist deswegen umstritten. Immerhin, die Finanzierung scheint trotz der gewaltigen Summen bewältigbar. 90 Prozent kommen von Bund und Land. Da gilt es: Zugreifen, »bevor es andere Städte« tun, rät der Rathaus-Chef.
Butter-Barometer. Die Einnahmen sinken, die Unistadt muss 2020 mit deutlich weniger Geld auskommen. Palmer wacht über die Finanzen und hat verfügt: Nun muss gespart werden. In guten Jahren waren beim Neujahrsempfang 90 Prozent der Brezeln mit Butter bestrichen. Jetzt hieß es: »Wir können uns nur noch auf der Hälfte aller Brezeln Butter leisten. Zum Trost: Die Weinmenge ist weiterhin nicht rationiert.« (GEA)