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Her mit den Besten: Wie das Land Spitzenforscher nach Tübingen lockt

Oxford, Harvard, Princeton: Wer in der Wissenschaft Karriere machen will, muss Stellen an renommierten Universitäten im Ausland ergattern. Doch auch Baden-Württemberg lockt.

Die Uni Tübingen ist eine von 17 Hochschulen, die im Netzwerk tätig ist. FOTO: PRIVAT
Die Neue Aula, die zur Uni Tübingen gehört. Foto: Privat
Die Neue Aula, die zur Uni Tübingen gehört.
Foto: Privat

TÜBINGEN. Der Lebenslauf von Eric Schulz kann einschüchtern. Der 33-Jährige hat Psychologie, Kognitions- und Entscheidungswissenschaften, Statistik und Informatik studiert und promoviert. Er lebte in Berlin, London und Boston, er forschte an den Universitäten Oxford und Harvard. Anfang des Jahres hat er die flirrenden Metropolen und glamourösen Namen gegen das schwäbische Neckartal getauscht. Jetzt schwärmt der Neurowissenschaftler von der wandertauglichen Umgebung und mittelalterlichen Gebäuden. »Tübingen ist eine wunderschöne Stadt«, sagt er über seine neue Wahlheimat.

Dort soll Schulz aber vor allem arbeiten - und zwar nicht allein. Baden-Württemberg hat in Tübingen 2016 mit akademischen und industriellen Partnern das »Cyber Valley« gegründet und ein Ökosystem aus miteinander vernetzten Instituten geschaffen. Der Forschungsverbund versteht sich als Tummelplatz für Nachwuchshoffnungen und internationale Wissenschaftler-Elite. Auch damit will das Land dem »Brain Drain« entgegenwirken - der Abwanderung Hochqualifizierter.

Schulz hat die Tübinger Aufbruchstimmung überzeugt. Seit Januar ist er Forschungsgruppenleiter am dortigen Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik. Hier soll er ein interdisziplinäres Team aufbauen, das die mathematischen Prinzipien von Intelligenz untersucht.

In Zusammenarbeit mit Berliner Wissenschaftlern analysiert er, wie Kinder Aufgaben mit Bausteinen lösen. Aus dem Spielverhalten der Kleinen sollen Algorithmen gebaut und damit einmal Roboter gefüttert werden - die Erwachsenen beispielsweise in der Küche zur Hand gehen könnten. »Wir wollen Roboter haben, die ganz viele verschiedene Aufgaben lösen können«, beschreibt Schulz sein Ziel. In seinem Team arbeiten Forscher aus China, Kanada und Indien.

Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung handelt es sich beim Großteil jener, die jährlich aus Deutschland auswandern, um Akademiker - die aber nicht unbedingt auch als Wissenschaftler arbeiten. Ein generelles »Brain Drain«-Problem hat Deutschland laut Jan Kercher nicht. Der Experte vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) sagt, dass die Bundesrepublik von der Wissenschaftlermobilität profitiere. Demnach publizieren nach Deutschland eingewanderte Wissenschaftler erfolgreicher, als das in einigen Nachbarländern oder auch den USA und Kanada der Fall ist. Das heißt, sie werden häufiger zitiert.

In Forschungsbereichen, in denen Deutschland international noch nicht zur Weltspitze gehöre, sehe es etwas anders aus - vermutlich zähle der Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) dazu, sagt Kercher. »Dort ist es dann eben leider auch schwierig, die Leute zur Rückwanderung zu bewegen, weil es in Deutschland derzeit nicht genug attraktive Stellen in diesen Forschungsbereichen gibt, bei denen man dann auf einem ähnlichen Niveau wie in anderen Ländern weiterforschen kann.« Das seien aber nur Vermutungen, harte Daten lägen nicht vor.

Vom weltberühmten Harvard an der US-amerikanischen Ostküste nach Tübingen? Auch Eric Schulz zweifelte ein wenig. »Anfangs hatte ich ein bisschen Angst, dass man hier vielleicht nicht die Top-Wissenschaftler rekrutieren kann«, sagt er. Dass er sich doch für Tübingen bewarb, statt in den USA zu bleiben, lag auch an einem in der Wissenschaftsszene prominenten Namen: Peter Dayan. Schulz hält ihn für einen der besten Neurowissenschaftler der Welt: »Als ich hörte, dass Peter Dayan nach Tübingen geht, war ich so happy, als hätte Deutschland die WM gewonnen.«

Der britische Mathematiker Dayan forscht an der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Medizin und maschinellem Lernen. Aktuell beschäftigt ihn, wie Menschen mit Hilfe von Informationsquellen und Erinnerungen Entscheidungen treffen. Auch Dayan lockte die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) nach Tübingen. Seit 2018 ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik. Neben mehreren Auszeichnungen erhielt er 2020 im Bereich künstliche Intelligenz eine der renommierten Humboldt-Professuren, den höchst dotierten Forschungspreis Deutschlands.

80 Max-Planck-Institute unterhält die MPG bundesweit. Die Forschungsorganisation ist der Grundlagenforschung verpflichtet und bietet laut Dayan eine verlässliche Förderung - für eine steigende Anzahl ausländischer Wissenschaftler sei es deshalb attraktiv, nach Deutschland zu kommen und für die MPG zu arbeiten.

Neben Fraunhofer-Gesellschaft, Leibniz-Gemeinschaft und Helmholtz-Gemeinschaft zählt die MPG zu den vier größten deutschen außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Der Anteil des ausländischen Wissenschaftspersonals steigt laut DAAD fast in allen von ihnen kontinuierlich, in der MPG lag er 2017 bei 45,9 Prozent.

Tübingen ist ein Spezialfall. Die 90 000-Einwohner-Stadt zwischen Schönbuch und Schwäbischer Alb war jahrhundertelang vor allem für schöngeistige Genies populär. Hier dichtete Hölderlin, hier philosophierte Hegel. Künftig soll die Stadt globale Strahlkraft auf einem anderen Gebiet entfalten, mit dem »Cyber Valley« ein Zentrum der KI-Forschung entstehen. Neben dem Land, den Universitäten Stuttgart und Tübingen und der MPG sind auch Unternehmen wie Bosch und Daimler sowie Amazon daran beteiligt.

»Hier wurde exzellente Arbeit darin geleistet, sowohl eine akademische Infrastruktur zu schaffen als auch Unternehmen an Land zu ziehen«, sagt Dayan. Seiner Einschätzung nach könnte aber das deutsche Bildungssystem, das sich von dem der USA oder Großbritanniens völlig unterscheide, im Wettbewerb um internationale Spitzenabsolventen noch ein Nachteil sein. Eric Schulz klagt noch über eine im Vergleich zu den USA ausgeprägtere Bürokratie. Sein Institut arbeite daran, das zu ändern.